Wolfgang Höhn Zweite Wahl Wir standen am Checkin und sahen uns stumm an. Zweifelnde vor einer Entscheidung. Wir heulten gleichzeitig los und umarmten uns. Lisa packte ihren Koffer und den Seesack und stellte beides wieder auf den Rollwagen, während ich die Tickets zurückgab. Wir hatten ein paar Kröten verloren, was machte das schon, schließlich hatten wir uns gewonnen. Auch diesmal stellte sich lediglich die Frage: "Für wie lange?" "Ich weiß es nicht, keine Ahnung." Wir schritten aus der Halle heraus, Hand in Hand, wie Kinder. Ich fand, das war ein gutes Zeichen. Die Sonne oder stählernes Flutlicht umhüllte uns, was soll ich sagen, auch das war einerlei. Die erste Nacht war die Hölle. Sie war nüchtern und dachte, ich sei so eine Art Lehnstuhl für sie. Ich war aber bloß müde, richtig fertig mit allem. Ich hatte mir eine Flasche Gin gekauft, mit dem halben Kasten Bier und dem billigem Sekt ergab das ein erstklassiges Besäufnis. Ich hatte meinen Job geschmissen, weil mich die Plackerei anödete. Etwas Neues hatte ich nicht in Aussicht, ich hatte die Nase gestrichen voll. Von allem. Lisa saß da und sah mir zu, wie ich Unsinn plapperte, ich weiß nicht, was sie an mir fand, aber sie blieb, irgend etwas musste an mir sein, was sie dazu trieb, durchzuhalten, Geld war es sicherlich nicht. Den Sekt hatte ich nur für den Fall, dass mir nicht schlecht wurde. Mehr peilte ich nicht. Der nächste Tag begann für mich auf dem Klo um zehn Uhr morgens, Lisa klopfte sanft, aber unablässig. Ich saß seit über einer halben Stunde auf der Schüssel und hatte eins meiner tausend Comichefte auf den Knien, eine beliebige Seite aufgeschlagen, unfähig zu lesen. Das Porzellan blendete mich. Lisa nervte. Meine Beine waren eingeschlafen. Mir war schlecht. Richtig schlecht. An dieser Stelle mache ich einen Schnitt. "He, Herr Martin, Sie kommen zu spät!", rief der Versandleiter vorwurfsvoll, während ich versuchte, nüchtern auszusehen. "Entschuldigen Sie, gestern hat mein Bruder geheiratet. Ist ein bisschen spät geworden deswegen. Das kommt nicht wieder vor, ich verspreche es", sagte ich und dachte Leck mich am Arsch. Er war die lange Hand eines Ausbeuters: also um keinen Deut besser. "Das ist nicht das erste Mal, Martin!", mahnte er mich. Ich nickte ohne die Miene zu verziehen. Ich hätte ihm auch einen rechten Cross versetzen können, offene Deckung. Eigentlich war er mir egal. "Ich könnte Sie einfach ins Lohnbüro schicken, ich müsste nicht einmal dem Personalchef Bescheid geben, das wissen Sie, Sie sind nur Aushilfe!" Der alte Kotzbrocken, keine fünfzig Jahre und redete, als gehörte das ganze Arsenal mittel-ständischer Wichtigtuerei ihm. Ich sah zur Decke, denn der schwarze Bitumen ließ einen schwanken. Ich hielt still, so gut es eben ging. Sich unnötig zu bewegen, bedeutete bloß, Leute unnötig zu reizen. "Der Stapler steht drüben in der Wartungshalle!", kommandierte er nach einer Weile, in der er neugierig abwartete. Vielleicht hoffte er, dass ich doch noch umkippte. "Bin schon dort", sagte ich und machte kehrt. Folgsam, aber nicht zu schnell. Ich fand, ich war sehr gut weggekommen. "Eine Frage noch, Herr Martin: Haben Sie viele Geschwister im heiratsfähigen Alter?" Auch eine gute Stelle für einen Schnitt. Lisa saß auf dem breiten Sofa und erzählte, wie es im Irrenhaus war. "Das ist eine psychiatrische Klinik, ich bin keine Irre!", traf es mich schrill. "Ist ja gut, ist ja gut", beschwichtigte ich. "Also eine Psyche, auch in Ordnung, das spielt doch keine Rolle, wie man es bezeichnet, wir wissen beide, was es ist, was gemeint ist, lieber Himmel, der Name dafür ist egal, es sind die Auswirkungen..." Sie machte ein betretenes Gesicht. "Nur die Ruhe", brummelte sie. "Immer rastet ihr gleich aus..." Die Stille verletzte einen, ich hatte den Fernseher an einen Lageristen verkauft, es war das Schnäppchen des Jahres für ihn, das Ding war fast wie neu gewesen. Dafür säuselte die Stereoanlage pausenlos alles, was Lisas Scheiben hergaben. Ich selbst hatte nur fünf CDs behalten, als ich mich vom Leben trennen wollte, fünf, das war genug gewesen. Ich hatte einen halben Nachmittag investiert, um die fünf auszuwählen, die mir wichtig genug erschienen, aber zum Schluss fand ich, dass ich nicht recht getan hatte: Die anderen waren auch nicht schlechter. Man braucht sehr wenig zum Leben, wenn man das Trennen erst mal erlernt hat. Als ich alles verkauft hatte bis auf Wesentliches oder Gleichgültiges oder Sachen, die sich einfach nicht mehr verkaufen ließen, war mir einerseits wohler, andererseits fühlte ich den Tod hautnah. Die spartanische Leere ließ einen einmal aufatmen, im nächsten Moment schon in Beklommenheit versinken. Das Drumherum, das man so anhäuft, bindet einen zuverlässig: Konsumkitt und kitsch gleichermaßen. Wäre mir Lisa nicht über den Weg gelaufen, ich hätte einen schweren Fehler begangen. Schnitt. Am Tag nach dem Überfall saßen wir noch immer in der stickigen Bude und lachten und jubilierten leise und alles um uns herum tanzte: Schrank, Kühlschrank, Flaschen, Staubpartikel im Seitenlicht, wir mittendrin. Warum wir uns für unsterblich hielten war einfach: Wir hatten beide nicht besonders viel auf die Waagschale zu werfen, das Leben war zu nichts weiter fähig, als uns die Zeit zu stehlen. Dieser billige Diebstahl an uns brachte uns dann auch erst auf die Idee: Warum nicht zurückholen, was einem geklaut wurde? Nicht nur Lisa war eine Irre, auch ich gebe zu, dass ich nicht richtig tickte, wir waren beide nicht maßgeschneidert, aber: Wir hatten uns gefunden, weil das einzige, was uns verband, der Gedanke war, dass einem nichts besseres passieren konnte, wenn man einfach aufs Leben schiss und genau nach dieser Maxime lebte. Wir saßen in der Bude und aßen und tranken von unseren Vorräten, die lange Zeit hielten. Am vierten Tag ging ich, um einen neuen Kühlschrank zu kaufen, weil uns Sachen verdorben waren. Bereits nach drei Tagen. Wenn das kein Beschiss war. Wir brauchten das Teil, weil wir ein Festmahl angedacht hatten: unser Hochzeitsessen. Ohne Trauschein, ohne Standesbeamten, ohne Gäste, nur wir. Man braucht wirklich sehr wenig im Leben, wenn man sich einig ist. Wir einigten uns auf Truthahn in Nashisauce. Lisa steckte feierlich den Stecker rein und saß lange Zeit vor dem verdammten Licht, das für sie eine neue Welt öffnete, während das Teil gequält zirpte. Sie starrte geistesabwesend in den Kühlraum, ich befürchtete mehr und mehr, ein Alien könnte herauskriechen und sie in die hellblaue Tiefe ziehen. Irgendwann zog ich sie von dort weg, sie schlug wie wild um sich. Ich sah ihre winzigen Augen, die ringsum keine Heimat, keinen Halt mehr zu finden schienen. Dann beruhigte sie sich allmählich, ich sah ihren Pupillen zu, wie sie die Welt wiederfanden und war mir nicht sicher, ob ich recht darin getan hatte, sie von dem Licht wegzuzerren. In solchen Momenten, dachte ich, war sie wirklich glücklich. Was, wenn das ihr letztes Bild gewesen wäre: ein glücklicher, zufriedener Blick in den weißen, wie Perlmutt schimmernden Kühlschrank? Ich hatte ihr das später gesagt, es beschrieben, als hätte ich sie aus einer glänzenden Muschel befreit. Seither nannte ich sie, wenn ich sie trösten musste oder so, meine Perle. "Du hättest mich damals in meiner blöden Muschel lassen sollen", sagte sie, wenn sie sich in sich selbst vergrub. Dann wurde ich traurig, nicht so sehr wegen meines schlechten Gewissens, und die Schuld wuchs in mir und ich begann, mich zu betrinken. So hatte jeder von uns seine Lebensstarre. Lisa sah zu mir herüber, wie ich an meiner Tasse nippte. Ich blinzelte ihr feixend zu und sie lachte hell auf. Das passierte mir nicht allzu oft, ehrlich gesagt, in letzter Zeit so gut wie nie, aber ich hatte mich für diesen Tag mächtig herausgeputzt. Jeder schmiss sich in Schale, wenn er auf eine Beerdigung latschte. Weil sie gute Laune bekam, bildete ich mir etwas ein, dachte: He, da schafft es doch noch einer, dir an die Seele zu rühren, aber es war bloß Zufall, blöder Zufall. Wenn man denkt, in der ersten Reihe zu tanzen, ist das immer nur Verarschung, selten landet man einen Treffer, aber einen Haupttreffer zu ziehen, der es gut mit einem meinte, kam so gut wie nie vor. Ich lachte zurück und wischte mir das Kinn ab, dann stand ich auf, ging zu ihr hinüber und bat sie, sich an meinen Tisch zu setzen. Sie kam tatsächlich zu mir herüber. Da erst hatte ich Zeit, mir darüber klar zu werden, warum ich an meinem avisierten Todestag diesen Scheißfehler beging. Aber die Erklärung ist einfach. Sie hatte diesen Blick, dieses Gesicht, diese Augen, machte diese Bewegungen, na ja, jeder kennt das, sie hatte etwas, das mir den Puls schneller schlagen ließ. Vom ersten Augenblick an: seelenverwandt. Ich hatte was übrig für Lisa und beschloss, sie nicht gleich am ersten Tag besiegen zu wollen. Ich fing erst an durchzublicken, als es zu spät war. Zu spät für uns beide. Hätte ich sie doch in ihrer Muschel gelassen, hätte ich sie doch bloß nicht eingefangen mit diesem Blick. Hellblau schimmerndes Licht, das Lisa in eine Silhouette verzauberte, die mich bannte, wie sie der Kühlschrank. Lisa war mein: Kühlschrank. Wir fickten erst nach etwa einer Woche miteinander, aber es bedeutete für keinen von uns besonders viel. Wir hatten ineinander gefunden, ohne uns zu bekleckern, eigentlich das, worauf man ein Leben lang wartet, der Akt selbst war banal dagegen. Es war nicht besonders toll gewesen, sie hatte Schmerzen dabei und ich war nicht bei der Sache, konzentrierte mich viel zu sehr auf sie, verkrampfte. Wir probierten es nach und nach wieder. Ein oder zweimal hoben wir sogar ab. Lisa redete manchmal wirres Zeug, das man für genial halten konnte, wenn man lebensbesoffen genug dafür war, an manchen Abenden schaffte ich es sogar, sie eine Zeitlang auf diesem Level zu halten. Ich hatte ein miserables Abitur hinter mir, das so viel wert war, als hätte ich keines gehabt, aber ich hatte das, was Lisa "diese Offenheit" nannte, die man nur bekam, wenn man irgendwann im Leben... "...mitbekommt, dass man die richtigen Fragen stellen muss, um schlaue Antworten zu bekommen. Es geht nicht um Transpiration, sondern Inspiration. Das hat schon Einstein gesagt." "Und ich stelle die richtigen Fragen? Ich habe bisher noch nicht besonders viel gefragt, soviel ich weiß!", zweifelte ich ihre These an. "Aber aus deinen Antworten, deinen Äußerungen merkt man das. Intelligent zu sein, heißt nicht, in Windeseile schwierige Kreuzworträtsel lösen zu können oder Wissen anzuhäufen oder Tests gut zu bestehen, sondern das richtige Gefühl für Fragen entwickelt zu haben." Ich trank einen Schluck Bier aus der Flasche, als wollte ich das Thema wegspülen. Das war mir nicht geheuer, ich hielt das auf diesem Niveau nicht lange durch. "Ich weiß, was du meinst. Aber das nutzt einem nichts, wenn man auf Stellensuche ist. Die wollen nämlich nur Scheine sehen, auf denen steht, dass man was kann. Ansonsten ist man nur ein Nichts, ein Niemand, der herumgeschubst wird", sagte ich. "Und auf Inspiration verzichten die gerne, die wollen einen schwitzen sehen." "Ich weiß, dass das nichts nutzt, aber deswegen ist man noch lange nicht zu nichts nutze." "Aber genau das geben einem die Leute zu verstehen, genau das!", beschwerte ich mich bei ihr, wohl wissend, dass sie die falsche Adresse war. Ich hatte einen Tonfall in der Stimme, als sei sie ein direkter Vorgesetzter, einer dieser Unterchefs, die einen in den Wahnsinn trieben, weil man zwar Grips genug hatte, sich zu fühlen, als könnte man sie locker in die Tasche stecken, die einem aber keine Chance ließen, ihnen das nahe legen zu können, ohne dabei den Job zu riskieren. Ich beschwichtigte sie: "Lass uns etwas zusammen kochen, etwas besonderes." Dieses Angebot gewichtete ich stärker als einen Beischlaf, ich war ein miserabler Koch, zudem ohne Übung. Als wir den Sack begutachteten, wie er lasch und eingefallen auf dem Sofa ruhte, zeigten wir betretene Gesichter. Lisa öffnete eine Flasche Wein, also war Vergessen angesagt, wir hatten ja später auch noch Zeit genug. Das Ding zu drehen und die Beute zu begutachten waren zwei völlig verschiedene Dinge. Wir brauchten zwar das Geld, aber wir brauchten es auch nicht wirklich, wir kamen gut ohne aus. Wir brauchten uns nicht einmal einander, nicht wirklich. Es war nicht einfacher zusammen, aber auch nicht schwieriger. Lisa kochte nicht für mich, ich hielt mich sexuell bedeckt. Wir bestellten Pizzas und schmissen die Kartons in den Müll. Am nächsten Tag bestellten wir ein Chopsuey oder Pekingente vom Chinesen und schmissen in den Müll, was wir nicht schafften. Dann backten wir uns Pommes aus dem Rohr und tunkten die gelben Dinger stereotyp in eine Schüssel mit Ketchup bis wir am Platzen waren. Die letzte Tüte Pommes frites wanderte dann ins Eisfach, bis nach Burger, Fertiglasagne usw. wieder Pommes mit Ketchup dran waren. Wir betranken uns und als am nächsten Morgen der Sack immer noch so dalag wie am Vortag, fragte ich sie scherzhaft, ob wir ihn überhaupt öffnen sollten. "Ich könnte ja eine Arbeit annehmen", alberte ich herum. "Ich meine nur, so als Versuch. Wir könnten eine Weile unerkannt bleiben, denn unter dem Haufen Scheine ist garantiert der eine oder andere, der registriert ist." "Und du sagst, du hättest nichts auf dem Kasten!", meinte Lisa und ihre Augen leuchteten. Sie sah es gerne, wenn ich mir Mühe gab. Ich gab mir ungern Mühe, das, so dachte ich, hatte ich hinter mir. "Wir könnten auch ein paar Scheine ausgeben und einmal ganz gediegen etwas selbst kochen...", schlug ich eher aus Langeweile vor. "Du kannst kochen?", fragte sie erstaunt. "Ich kann es ja bis Übermorgen lernen." Klarer Fall, dass ich es nicht lange aushielt. Ich rammte den verdammten Gabelstapler, stapelnde Gabel voraus, in eine Batterie Ölfässer, als mich der Versandleiter zum vierten Mal nervte, wo ich denn bliebe, ob ich heute noch den Lastwagen voll bekäme, dass es mit mir im verqualmten Frühstücksraum gefährlicher war als draußen bei dem Ölzeug. Er donnerte mich an, was mir in den Sinn käme, so unachtsam zu sein. "Leck mich am Arsch", raunte ich ihm zu, als ich aus der Kanzel zu ihm hinunter stieg, eigentlich nur, um zum Kotzen zu gehen. Ich hatte es so aussehen lassen, als sei es ein Versehen, aber er und ich wussten, dass es keines war. Ich tat ihm den Gefallen nicht, seinen Anschiss pflichtschuldigst entgegen zu nehmen, sondern drehte mich einfach um und ließ ihn stehen. Ich glaube, das war es, was ihn so richtig sauer machte, ich glaube, ich hätte den verdammten Scheißjob behalten, wenn ich mir seinen herausgebrüllten Vortrag angehört und betroffen und demütig seine Schimpftirade über mich hätte ergehen lassen. Solche Typen brauchten immer einen, auf dem sie herumtrampeln konnten, das verbesserte in ihren Augen das Betriebsklima. Aber statt mir seinen Wutausbruch reinzuziehen, zeigte ich dem Blödmann einfach den Rücken und zog es vor, aufs Klo zu latschen, was er aber nicht ahnen konnte. Sicher dachte er, ich wollte einfach so abhauen. Er packte mich von hinten am Kragen und presste mich gegen das Rolltor, meine Backe ahmte ein wenig das Muster dort nach, ich kann nicht behaupten, dass mir das gefiel, aber zumindest der Würgereiz war schlagartig verschwunden und ich fühlte mich nicht mehr so schwächlich und hundeelend. Keine Ahnung, was er mir fauchend ins Ohr grölte, es interessierte mich nicht, ich wollte von da an nur weg. Er war ein blöder Arsch, ein armes Würstchen, hatte wahrscheinlich eine Alte mit einer Grotte so trocken wie Knäckebrot. Ich hatte es versucht, mehr konnte man nicht von mir verlangen. Ich war nicht geschaffen für solche Jobs, jedenfalls nicht für längere Zeit. Als ich ihm in der Drehung, die er verursachte, weil er gern demjenigen ins Gesicht grinsen wollte, den er in der Mangel hatte, meinen Ellbogen mit voller Wucht vor die Nase knallte, war das bereits der vorzeitige Sieg. Viel zu rasch dafür, dass er mich so unfair angefallen hatte. Im Nu waren drei Lagerarbeiter da, die uns trennten. Sie konnten zusehen, wie mich ihr Chef auseinander nahm, das war mal eine Abwechslung, aber keiner von ihnen hatte große Lust darauf, ab jetzt meine Rolle als Fußabstreifer zu übernehmen. Sie hatten im Gegensatz zu mir etwas zu verlieren. Es bedurfte weder einer Kündigung noch einer Gegenanzeige wegen Körperverletzung, Schwamm drüber. Die Lagerarbeiter hatten wenigstens eins: Sinn für Gerechtigkeit. Lisa verarztete mich und beharrte darauf, es sei mein Fehler gewesen. Ich widersprach ihr nicht, nahm mir eine Cola und rollte mir den ersten wirklich fetten Joint meines Lebens: ein tödliches Gemisch aus halb Tabak, halb Marihuana. Lisa, die sich auf dem Gebiet auskannte, warnte mich, aber ich ignorierte ihre Bedenken. Als der Kick einsetzte, war es in dem Moment, als flöge mir mit einem Ruck, der Null weh tat, die Schädeldecke weg. Dann fühlte ich eine anhaltend drückende Beklemmung, während der ich alles von mir stieß, Lisa eingeschlossen. Ich riss mir die Kleider herunter, wenig später hüllte ich mich in eine Decke. Kurz darauf versank ich im Sofa und erstarrte, damit mir vom Flimmern nicht schlecht wurde. Dann begann die Fahrt, erst langsam, sehr behäbig, dann raste der Zug los. Es musste ein ziemlich schwerer Zug sein. Ich saß vorn auf dem Puffer, durch den Fahrtwind in meiner aufrechten Sitzposition festgehalten. Lisa sagte mir, ich hätte stundenlang wie eine Statue ausgesehen, halb hingekauert, halb gelegen, ich kann das nicht glauben, weil ich mich ziemlich in die Kurven legte, als galt es, nicht herabgeschleudert zu werden. Ich sauste eine schiere Ewigkeit durch endlose Tunnels, Höhlen, Kavernen, mit leuchtenden Graffiti an den Wänden, dicke Äste knapp vor mir auseinander weichender Wälder wollten mich packen, einmal spießte der Schienenstrang vor mir die Unendlichkeit auf, dass der Horizont zersplitterte und in Millionen Funken zerstob. Dann setzte die Lok über irre schmale Bücken hinweg, die über riesige Gebirgszüge führten. Ich raste eine Weile übers weite Meer, dann in Wolkenbäusche hinein, dann über nicht enden wollende Landschaften, deren Details manchmal heranzoomten und gierig nach mir schnappten. Ich flutschte über eine spiegelglatte Meeresoberfläche und sauste am Ende des Horizonts in hohem Bogen steil nach unten in tiefschwarze Nacht. Später flog ich nur noch endlos lange aus der Tiefe des Universums heraus, an winzigen Sternen vorbei und wunderte mich, warum dies kein Ende nehmen wollte. Als ich zur Ruhe kam und alles um mich herum schemenhaft waberte, schlief Lisa im Sessel mir gegenüber, die Fernbedienung in der Hand. Als ich mich wieder bewegen konnte, ging ich aufs Klo, und als ich das Gefühl der Erleichterung in meiner Blase spürte, kotzte ich in die Badewanne. Ich wollte den Dreck schon auswischen, als mir Lisa einfiel. Ich nahm ihr die Fernbedienung aus der Hand und drückte auf PLAY. Ich traute meinen Ohren nicht: Violinen setzten leise ein, dann lauter: Celli, Bratschen, ein kurzer Trommelwirbel, Flöten oder so. Ich sah auf die Hülle und sah mir den Titel genauer an. Ich kannte die Musik vom Hören, Aus der neuen Welt sagte mir in dem Augenblick aber noch nichts, ich hatte gerade Schwierigkeiten mit der Vergangenheit. Als ich mich wieder aufs Sofa niedergelassen hatte, wunderte ich mich, warum sie nicht aufgewacht war, als die Musik eingesetzt hatte. Ich saß noch lange so da, schließlich hatte sie Wache gehalten, als ich abgehoben war. In dem Augenblick, da mir bewusst wurde, was mit ihr geschehen war, beschloss ich, mich nie mehr als Trostpreis zu fühlen. Sie trat an mein Bett, verkatert und ungewaschen, aber bereits leicht bekifft, und servierte arme Ritter. Das schwammige Weißbrot war nur genießbar, wenn es sich hinter irgendeinem Geschmack versteckte. Ich hatte ihren leicht durchscheinenden Slip vor meiner Nase, dazu trug sie ein ausgewaschenes T-Shirt an, worauf Big Dick Parking Only stand und ein müder roter Pfeil ins Souterrain verwies, aber ich schaffte es nicht mal, einen hochzukriegen, so benebelt war ich vom Vorabend. Neben dem Teller lag ein neues Comicheft, doch die Bilder der amerikanischen Comics waren nicht sonderlich amüsant oder gar witzig, zuviel Gewalt, Sexismus, zu plumpe Anspielungen, anscheinend entging uns Europäern diese Art Komik. Dafür hatte ich mich in ihr scheußliches Bier verknallt, das man literweise in sich schütten konnte - richtig betrunken machte es nicht. "Das Brot war schon angeschimmelt, ich hoffe, es macht dir nichts aus, ich habe die ersten Scheiben weggeworfen und ein paar Stellen weggekratzt", sagte Lisa beiläufig, während ich ihr eine Chance gab, besonders breit zu lächeln. Ich trank einen Schluck aus der Plastikflasche, um den Gedanken daran zu desinfizieren, dann bat ich sie um eine Dose kaltes Bier, um ihren Hintern zu sehen. Ich hatte mir Amerika anders vorgestellt. Städte, Wolkenkratzer, Polizeisirenen, Neonlichter, eine spannende Geschichte, in die man verwickelt ist, die sich abspult, als hätte man mit dem Leben einen Handel der Kurzweil ausgemacht. Ein bisschen davon zu spüren, wäre nicht schlecht gewesen, ein bisschen Las Vegas, Miami oder den Reichtum, den Denver ausstrahlte, mitnehmen in die Verlassenheit dieser Käffer und Motels, in denen man sich so angenehm fremd fühlte. Wir behausten für ein paar Tage oder Wochen ein Motel, bis wir die Schnauze von der Gegend voll hatten. Dann brachen wir auf und suchten woanders eine Bar, in der noch keiner spielte. Größere Ansiedlungen mieden wir mit der Zeit. Ich gewann mehr und mehr den Eindruck, ganz Amerika sei unmusikalisch. Wir mixten Free Jazz mit Pop, mit Reggae, mit Rock, zitierten Goodman, die Monroe und wenn ich in die Coltrane-Phase, wie ich es der Einfachheit halber nenne, fiel, spürte ich den Zug in mir loswummern, dann flackerte es vor meinen Augen und ich konnte den nächsten Joint hinter der Bühne nicht erwarten. Lisa beäugte mich aufmerksam, ließ sich aber nichts anmerken. Nur einmal hatten wir während der ganzen Zeit über Probleme, an Marihuana zu kommen, danach bogen wir wieder in Richtung Golf ab. Die beste Tageszeit war aber vormittags, wenn ich lang im Bett blieb und Lisa sich an mich ranmachte. Ich hoffte sehr, dass sich das nicht abnutzte, wir waren richtig gut geworden, wir beide: wir hatten ficken gelernt. Ich zog sie sanft von der hellblauen Leuchtreklame weg und führte sie nach Hause. Dort hockte sie dann auf dem Bett, den Kopf an die Wand gelehnt, regungslos. Für Stunden. Ich ließ sie in Ruhe. Einmal ging ich in den Supermarkt und holte Bier und Chips, als ich wiederkam, saß sie noch immer so da. Ich setzte mich neben sie, ließ alles, wie es war und trank in aller Ruhe mein Bier, während ich sie mit jeder verstreichenden Minute mehr liebte. Irgendwann stand sie dann auf, ging zum Kühlschrank, brachte zwei neue Dosen Bier, so als wäre nichts gewesen und setzte sich neben mich, um mit mir über irgendwas zu reden. Ihr Blick haftete am Kühlschrank. Am nächsten Morgen gab es arme Ritter mit Parkanweisung. "Ich verspreche dir", stammelte sie, sich wieder und wieder verschluckend. "Ich halte durch. Ich brauche nur hin und wieder einmal eine kleine Auszeit, nur ein paar Stunden, in denen ich mich in die Ecke setzen kann. Glaub mir, das hat nichts zu bedeuten, gar nichts. Das geht schon in Ordnung." "Gestern waren es mehr als ein paar Stunden", meinte ich besorgt und ein wenig wütend zugleich, denn ich hatte mich an das kleine Kaff irgendwie gewöhnt. "Wir haben deswegen den Termin platzen lassen, das ist gar nicht in Ordnung." "Ich weiß", versuchte sie sich zu verteidigen. "Aber du hast doch auch deine Zeit, in der du wie weg von der Welt bist." "Die nehme ich mir aber dann, wenn ich nichts aufs Spiel setzte!" Ich wusste, dass ich mich wie ein Arschloch benahm. Es war die einzige Möglichkeit, ihr auch einmal über zu sein: Wenn sie ihre kleinen Anfälle bekam. Ich machte dadurch natürlich alles schlimmer, zumindest in den kurzen Augenblicken danach. Aber sonst hielt ich es nicht aus mit einer Frau, die in fast allem besser war als ich, und das, ohne sich besonders anzustrengen. Ich nutzte ihr Schwäche kompromisslos aus. Hin und wieder versuchte ich, ihr das zu erklären. "Du brauchst dich nicht entschuldigen, das geht schon klar", sagte sie. "Du brauchst mir auch nichts zu beweisen, ich liebe dich doch!" "Das ist etwas anderes." "Ich verstehe dich doch, aber du brauchst wirklich keine Bedenken zu haben, glaub mir!" Sie sagte tatsächlich "wirklich keine Bedenken zu haben", sie sagte nicht "dir nichts draus machen" oder "keine Sorgen machen". Nein, sie verstand nicht. Ich sagte nichts, sondern sah nur verstimmt in das hell durchflutete Zimmer, in dem wir halbnackt herumlungerten und darauf warteten, dass einer genügend Energie aufbrachte, auch den anderen zu etwas mitzureißen. Ich machte mir Sorgen, ob sie durchhielt und ich fragte sie das fast jedes Mal nach einem ihrer Anfälle. "Ich verspreche dir, ich gebe nicht auf! Mein Wort darauf!" "Dein Wort!" (Ich dachte mir: Was ist das schon? Das Wort einer Irren!) Dann sagte sie aber etwas, das mich ihr so unendlich nah brachte, das mich an das glauben ließ, worüber wir vorgaben, uns nicht den Kopf zu zerbrechen: "Mehr habe ich nicht!" Lisa sang und ich klimperte, dafür gab es Alkohol und fetttriefende Riesenburger umsonst und obendrein ein hübsches Taschengeld, das für Benzin, Bier und diesen fabelhaften Whiskey reichte. In dem Punkt kann man den Amis nichts vormachen, selbst aus Plastikflaschen, die knapp eins Komma neun Liter fassten, schmeckte das Zeug besser als in Europa. Das musste an der Umgebung liegen. Wir hatten uns auch eine gute Zeit ausgesucht, es war Frühsommer, schon warm genug, aber noch nicht zu heiß. Wir hatten einen Rhythmus, die Motels und fanden mehr und mehr Gefallen daran, miteinander zu ficken. Solange keiner richtig krank wurde oder das Geld knapp wurde, war die Welt akzeptabel. Eine gefährliche Formel für Glück. Sie hatte dieses alberne mexikanische Zeug an, in dem sie so schwitzte, das das Publikum aber schätzte, also zog ich mir einen Poncho über, um cool auszusehen, und dann legten wir wieder los: Free Jazz und irgendwas mit Fett als freies Abendessen. Wir waren fast zufrieden, alles in allem war es gar nicht so schlecht um uns bestellt, weil wir anspruchslos blieben. Ein gutes Rezept. Wenn wir gut waren, reichte es sogar noch für die Motels. "Denkst du manchmal daran, was danach kommt?", fragte mich Lisa einmal. "Nein", sagte ich. Trotzdem fühlte ich mich nicht glücklich, nicht so, wie ich es hätte sein sollen, nicht annähernd so, wie in einem der amerikanischen Roadmovies, die ich aus der Zeit her kannte, als ich noch einen Fernseher hatte und mich bescheißen ließ. Den Gedanken, selbst in einem schlechten Film zu stecken, schob ich ganz weit weg. Wenn es die Zeit zuließ, also wenn wir nicht betrunken waren, den Nachmittag vervögelten oder einfach drauflos fuhren, um die Gegend zu begutachten, kämpften wir uns durch diverse Warenhäuser, die sich gegenseitig mit Sonderangeboten und Freundlichkeit ausstachen. Einen Moment dachte ich daran, dass diese Art, die Kunden zu hofieren, das letzte für mich wäre, was mir passieren konnte, aber als ich merkte, wie ausgesucht freundlich die Kundschaft zu den Bediensteten war, juckte es mich hin und wieder, einen Job auszuprobieren. "Kommt nicht in Frage", zeterte Lisa. "Eine Desillusion und du sitzt in einem Flieger nach Panama oder Australien, um dein nächstes Glück zu testen! Lass dir das gesagt sein, höre auf meine Warnung! Ich kenne mich aus in solchen Sachen!" Ich gab klein bei, fiel mir ja auch nicht schwer, ich hatte Lisa, eine Parklizenz, die Musik und unsere verlotterten Tage, von denen wir nichts weiter verlangten, als dass sie uns mit der Zukunft in Ruhe ließen. Lisa fand die tollsten Sachen, die ihr Begeisterungsrufe entlockten. Ich lachte mir insgeheim ins Fäustchen, für welchen Schrott die Leute hier Geld ausgaben, dass dies ein Stück Lebenskultur für sie bedeutete, übersah ich in meinem Spott. Lisa klärte mich mehr und mehr auf, was so alles im Leben abging, einmal dachte ich kurz an Christo, der in Gefangenschaft zu einem gebildeten Mann heranreifte, weil er jahrelang einen erstklassigen Lehrer im Knast hatte und sonst nichts. Vielleicht hatte sie auch Ähnliches mit mir vor. Dann beobachtete ich Lisa und bemerkte, wenn ich etwas genauer hinsah, wie ihre Augen unstet flackerten, und ich fragte mich, wie lange dies alles noch gut ginge. Wir hatten immer noch nicht unser Hochzeitsmahl gekocht, aber wir wussten, wie es aussehen sollte: Truthahn (klar, wir waren in Amerika) in geschälten Nashis mit Koriander, dazu halbierte, ausgehöhlte Kartoffeln, gefüllt halb mit Truthahnhackfleisch, halb mit Preiselbeeren. Man träumte viel im Leben, keiner von uns konnte kochen, aber wir philosophierten darüber. Auch eine Formel für Glück. Leben hatte man auch live lernen müssen, wieso sollte es beim Kochen nicht ebenso funktionieren? Ich selber knipste mir so alle vier bis fünf Tage das Licht aus: stellte genügend Bier kalt, achtete darauf, dass die Whiskeyflasche mindestens halbvoll war und deckte mich mit Chips ein. Während sich Lisa dann um unsere Wäsche sorgte oder Einkäufe machte oder las oder mich kurz einmal vögelte, betrank ich mich, weil die Erinnerung an früher durch irgendeine Szene wachgerüttelt worden war. Manchmal schickte ich sie um etwas Idiotisches, ein HimbeerSorbetEis, einen frischen Burger oder ich bat sie, sich vor meinen Augen die Schamhaare abzurasieren, was sie stets vehement mit einem nicht enden wollenden Redeschwall ablehnte. Mich brachte das jedes Mal zum lachen. Wir machten einen Running Gag daraus. Doch meistens ließ ich sie in Ruhe, im Gegenteil, sie war es, der ab und zu langweilig wurde. Sie hatte die Autoschlüssel, jede Menge Zeit, konnte machen, was sie wollte. Ich bildete mir ein, dass sie jederzeit gehen konnte, ohne mich zu verletzen, aber in Wirklichkeit waren wir einander auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, wir hatten das bloß noch nicht begriffen. Keine schlechte Strategie. Einmal musste ja der Tag kommen. Irgendwann hatte sie genug. Lisa stand vor mir, ganz ruhig, hatte sich in Schale geworfen und sagte zu mir: "Ich fange jetzt ein neues Leben an." Als erstes suchte ich unwillkürlich die Fernbedienung, weil ich dachte, dass ich mich in einem schlechten Streifen befand, aus dem ich raus wollte. Als ich den Koffer rechts neben der Tür bemerkte, bekam ich ziemlich schnell einen immens dicken Hals. Ich schluckte ein wenig an allem, was sich ein Jahr lang angestaut hatte, dann meinte ich: "Es macht wohl keinen Sinn, dich aufhalten zu wollen, oder?" "Du hättest mich damals in meiner blöden Muschel lassen sollen", sagte sie. Ich saß da, tat einen auf abgeklärt, äußerlich ruhig, während ich innerlich bereits Rotz und Wasser heulte und sich meine verletzte Seele an der Leber oder sonstwo auskotzte, sie hatte nie große Ansprüche gestellt, warum sollte sie es jetzt tun. "Du könntest es immerhin versuchen, das zeigte, dass ich dir etwas bedeute. Wirkliche Liebe ist für dich ja nicht drin. Du hast eine so herrliche Art, einem das Gefühl zu geben, nur ein Ersatz für das zu sein, was du leider niemals finden wirst." Solche Sätze hätte ich am liebsten genommen und ihr um die Ohren gefetzt. Dass ich das nicht tat, war doch Beweis genug, dass ich sie liebte, verdammt, ich dachte, in Lisa einen Kumpel gefunden zu haben, dem man den ganzen romantischen Quatsch und Kitsch nicht vorzuspielen brauchte, wir waren doch ein Team. Hatten wir die ganze Zeit über blind nebeneinander her gelebt? Wir führten doch ein klasse Leben. Es war nicht das Paradies, aber im Paradies gab es auch keine Zukunft. Ich sah sie lange an und sagte nichts. Sie wartete auf irgend etwas Mächtiges. Dass das Licht draußen schlagartig ausging, weil die Sonne ausgebrannt war. Dass wir in einem Riss versanken und von der Erde verschlungen wurden. Dass sich der Präsident der Vereinigten Staaten in unserer Tür irrte. "Bitte bleib!", sagte ich und sie blieb. Wir waren weit, weit weg. Von uns, von der Heimat, von dem, was wir gewohnt waren. Ich wusste nicht genau, ob ich etwas davon vermisste, aber ich vermisste etwas. Wir waren weit vom Hier entfernt, wir waren stets woanders als hier, das war es. Wir hatten mexikanische Kleidung an und sangen und spielten, weil wir es klasse fanden, sich als Belohnung dafür ausklinken zu dürfen. Wir kamen schon voran, wenn voran auch eine Warteschleife sein durfte, von der man zurückblickend sagt, sie sei eigentlich ganz fade, ganz okay, ganz lustig gewesen. Dabei war diese Zeit die beste, die wir beide jemals hatten. Wir hielten es einen Sommer und einen Winter und noch einen Sommer aus, ohne uns besonders auf die Nerven zu gehen, wir waren alles, was sich zwei Menschen sein konnten, wir klebten aneinander, wir stritten miteinander, wir tanzten, rauchten, fickten, tranken, flogen miteinander, und nur drei Tage vor der angesetzten Rückreise fingen wir an, uns Hässlichkeiten an den Kopf zu werfen. Sie hatte ihre verdammte Klinik und bunte Flecken vor Augen und ich diverse Arschlöcher in Form von Versand oder Abteilungsleitern, es machte keinen Unterschied. Wir würden schon zurecht kommen, aber was, wenn alles, was bisher richtig und am rechten Platz gewesen war, plötzlich falsch wäre? Was, wenn wir Unrecht hatten, was, wenn es doch keine Zukunft gab, auf die man, wenn man es brauchte, scheißen konnte, die einem nichts als Ärger und Angst bescherte, was, wenn es falsch war, zurück zu fliegen, um wieder ein normaler Mensch zu sein? Flughäfen waren das letzte. Man hob ab, aber man hatte keine Chance, oben zu bleiben. Wir nahmen uns vor, das Hochzeitsessen zum Abschiedsessen zu machen: Truthahn in Nashi, pyrus pyrifolia, dazu mit Truthahnhack und Preiselbeeren gefüllte Kartoffeln. Man braucht keine Ahnung fürs Leben zu haben, wenn man nur ein passgenaues Rezept hat oder gar keines. Mit dem Kochen ist es ähnlich. IF IT MAKES YOU HAPPY Sheryl Crow aus: 540 592 2, Sheryl Crow, A&M Records, 1996 I've been long, a long way from here Put on a poncho, played for mosquitos, And drank til I was thirsty again We went searching through thrift store jungles, Found Geronimo's rifle, Marylin's shampoo and Benny Goodman's corset and pen Well o.k. I made this up I promised you I'd never give up If it makes you happy It can't be that bad If it makes you happy Then why the hell are you so sad You get down, real low down You listen to Coltrane, derail your own train, Well, who hasn't been there before? I come round, around the hard way Bring you comics in bed, scrape the mold off the bread, And serve you french toast again Well, o.k. I still get stoned I'm not the kind of girl you'd take home If it makes you happy It can't be so bad If it makes you happy Then why the hell are you so sad We've been far, far away from here Put on a poncho, played for mosquitos, And everywhere in between Well, o.k. we get along so what if right now everything's wrong? If it makes you happy It can't be so bad If it makes you happy Then why the hell are you so sad Truthahn in Nashisauce mit gefüllten Kartoffeln Zutaten: Ein Truthahn Zehn Nashis (pyrus pyrifolia) Pappsüßes Preiselbeerkompott Sechs größte Kartoffeln Zwei große Zwiebeln Frischer Koriander Ein furztrockener Weißwein (bitte einen guten) Pfeffer, Salz Den gerupften Vogel köpfen und von den lästigen Innereien befreien, die selbst für den Biomüll zu eklig sind. Allerdings: Das Fleisch von Herz, Leber, Hals und das aus der linken Brusthälfte wird durch den Wolf gedreht, mit Pfeffer und Salz gewürzt und zu feiner Hacke verarbeitet. Der Vogel wird ebenso mit Pfeffer und Salz gewürzt und von allen Seiten leicht mit Koriander bespickt. Die sechs großen Kartoffeln halbieren und aushöhlen, Wand nicht dünner als ein Zentimeter. Die ausgehöhlte Kartoffelpampe gar kochen und im Verhältnis 1:4 zum Hackfleisch beimengen. Kartoffelhälften mit Preiselbeerkompott großzügig von innen bestreichen, sehr wenig Koriander darauf rieseln, dann mit Hackemischung füllen. Kein Käse darauf bitte. Mit dem Rest der gar gekochten Kartoffelpampe und die übrig gebliebene Hackemischung die linke Brusthälfte des Vogels füllen. In den übrigen freien Raum kommen geschälte, entkernte und halbierte Nashis (nicht mehr als vier). Den Vogel in ein Bratrein, den Rest der geschälten, entkernten und halbierten Nashis daneben verteilen. Geschälte und geachtelte Zwiebeln dazu. Ab in den Ofen. Den brutzelnden Vogel regelmäßig mit Weißwein alkoholisieren. Die Kartoffeln auch in den Ofen, aber bitte so timen, dass beides gleichzeitig gar ist. Bon appétit. www.montagskolumne.de |
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