Buchbesprechung: Franz Xaver Kroetz - Haus Deutschland. Haus Deutschland / Made in Deutschland/ Deutschland sucht dich. Neue Stücke 3. Rotbuch Verlag, Reihe: Rotbuch, Taschenbuch 1162, August 2004, 89 Seiten Broschur, ISBN 3-434-54519-0, 9,90 € Kurzinfo zum Buch von Rotbuchverlag: Deutschland ist immer noch zwei. Deutschland und »das andere«. Daran hat sich auch vierzehn Jahre nach der sogenannten Wiedervereinigung nicht viel geändert. Franz Xaver Kroetz hat drei Stücke geschrieben, die Deutschland zum Thema haben, zum Thema machen. In Haus Deutschland sprechen die beiden Länder miteinander, sie streiten sich, versöhnen sich, machen Witzchen über dies und das. Und haben Sex. In einer Dorfkneipe sitzen in Made in Deutschland lauter knurrige Gestalten. Sie sind alle deformiert von Sehnsucht, Gewalt und geistiger wie sexueller Hörigkeit. Der Mensch entkommt seiner Umgebung nicht. Deutschland sucht dich ist ein »TV-Massaker«, ein alles vernichtender Monolog eines modernen Gladiators, bei dem die Figur sich am Ende selbst nicht mehr kennt. Ein überaus aktuelles Stück mit erschreckenden Erkenntnissen darüber, was Medien mit den Menschen machen. Marie Theres Kroetz Relin Besprechung von "Made in Deutschland - Requiem für ein liebes Kind (Du hast gewackelt)" Es ist eigentlich nicht üblich, eine "familieninterne" Buchbesprechung zu schreiben und so mancher möge mir die fehlende Objektivität vorwerfen. Aber als "erste" Leserin seiner Stücke erlaube ich mir einfach, euch ein Theaterstück vorzustellen, das in meinem Herzen haften blieb und mich schwer beschäftigt, zumal wir auf der Hausfrauenrevolution viel über sexuellen Missbrauch/sexualisierte Misshandlung diskutiert und einige erschütternde Erfahrungsberichte zum Thema hatten. Zu seiner Motivation für dieses Stück schreibt der Autor: "Das Verbrechen von Burbach, in der Toscaklause, hat mich auf den Gedanken gebracht, das Stück zu schreiben. Personen und Handlung sind frei erfunden." Personen: Das Kind: Pascal Das Personal: Wally und Elfi Die Gäste (Chor und solo): Kurt, Bernd, Dieter, Roland und Otto Ort: Wirtschaft beim Bahnhof, Provinz; Bahnhofsgeräusche Das Stück "Made in Deutschland - Requiem für ein liebes Kind" ist hochaktuell, denn der "Fall Pascal" geht derzeit wieder durch die Presse, die Verantwortlichen stehen vor Gericht. Franz Xaver Kroetz hat ein erschütterndes Sozialdrama geschrieben, das eine Gänsehaut im Hirn hinterlässt. Schon die Beschreibung des Bühnenbilds führt den Leser in eine grauenhafte, arme Provinzwelt, stickig und eng, und lässt erahnen, dass es aus diesem traurigen Teufelskreis kein Entrinnen gibt: Armselige Tische mit karierten Tischdecken, Neonlicht, Linoleumboden, einem Fernseher auf Eisenarm (wie im Krankenhaus), mit Heizkörpern, die nachts abgedreht werden, Salz- und Pfefferstreuer und Brezeln, einer Klotür und in der Mitte die Theke. Das Besondere: Die Tische sind im Kreis angeordnet- wie bei einem Kinderkarussell. Sie können rundherum um die "Mitte" = Theke fahren. Alptraumartig dicht alles, nichts Realistisches, die Mischung aus Kneipe und Ringelspiel! So beschreibt Franz Xaver Kroetz das Bühnenbild, und schon seine Einführung zwingt den Leser/die Leser/innen, in den Kreislauf des Verbrechens und seinen beteiligten Personen einzutauchen. Über die Schauspieler schreibt er: Die Schauspieler müssen darstellen, dass ihre Figuren im Herzen ein Schild stecken haben: Betreten verboten. Das hat sie so zugerichtet, wie sie sind... ...Die Hände sprechen immer eine ganz andere Sprache als der Mund! Beispiel: Der Mund lügt Verständnis, die Hände sind Jäger. Sexual- Hospitalismus. Pascal, ein kleiner Junge, ist die Hauptperson in diesem Stück. Seine Geschichte wird aus verschieden Blickwinkeln und Erfahrungen erzählt, um ihn dreht sich das Stück (im wahrsten Sinne des Wortes), doch er tritt nie in Erscheinung: er ist tot. Elfi, (die Mutter von Pascal), ist immer im Stress, weil sie allen gefallen will, trotzdem infantil liest sie "Mädchen". Traurig-hilflos versucht sie mit der Situation, dem Tod ihres Kindes, fertig zu werden, indem sie alles verdrängt, vor allem ihre eigene Schuld, das Versagen einer Mutter. "Ich fühle mich einsam ohne dich. Du sagtest, ich werde dich nie allein lassen, versprochen. Doch als ich dich am Boden liegen sah..." Wie in einem Rosenkranz bejammert sie einerseits den Verlust "Dein Leben ist kurz gewesen, du durftest nicht mehr leben. Der Tod erwählte dich. Zurück blieb ich. Allein.", und anderseits bietet sie sich an "Wer will noch mal, wer hat noch nicht." Das Stück lebt von den litaneiartigen Wiederholungen, solange bis der Leser selbst nicht mehr weiß, wer denn nun das Opfer ist und wer der Täter. Wally (die Tante von Pascal) hingegen beteuert die ganze Zeit ihre Unschuld "Wenn man sich sowieso schon um alles kümmern muss, kann man sich nicht darum auch noch kümmern. Ich hab bloß zwei Augen und zwei Händ..." und verzweifelt "Alles was ihm Spaß macht. Hab ich nicht immer gesagt: Alles, was ihm Spaß macht. Und nichts was ihm nicht Spaß macht." Das Wegsehen als Entschuldigung für die grauenhafte Tat, zumal Wally (gemeinsam mit Elfi) immer die Hand aufhielt und das "verdiente" Geld von Pascal abkassierte. Die Gäste (Chor und solo) sind die "lieben" Onkel. Gemeinsam sind sie der Chor, der gebetsmühlenartig die Geschehnisse, Entschuldigungen, Tatsachen, Verteidigungen wiederholt, wie "Mahnmale" in die Luft geschrieen. Der Chor ist sozusagen der gemeinsame Nenner aller Figuren, die Hintergrundmusik des traurigen Ringelspiels, namens Teufelkreis. Jeder Onkel verteidigt sich, jeder erzählt seine Geschichte im Dialog mit "ihrem" Pascal. Kurt rechtfertigt sich, dass er das Kind von der Verstopfung befreien wollte und er das Abführmittel für ihn gekauft hätte "...aber das sind Zäpfchen, und Zäpfchen muss man natürlich hinten hineinschieben, sonst hat es keinen Sinn..." Kurt "bildet" sich durch BILD und weiß genau Bescheid. Bernd erweckte die "Lust am Reiten" in dem Kind. Pferd hat er keins, aber ein Quartett. "Ein Kartenspiel kann die Fantasie anregen. Wohin reiten wir, Onkel. Wohin Du willst." Wenn Bernd nicht redet, spielt er mit den Karten. Dieter bemerkte bei Pascal eine Phimose und hatte so einen Grund, sich intensiv um seine Vorhaut zu kümmern. "Schau, Onkel, ich kann meine nicht hin- und herschieben. Du hast gewackelt, ich bin dran. Das kann man operieren...", kauft ihm T-Shirts und spielt Mikado. Roland schenkt dem Kind ein Piratenschiff, war mit ihm im Tierpark. Er will als Dankeschön "Nur ein Bussi. Sonst nichts, nur schmusen" und spielt mit dem verlassenen Schiff. Auch Otto kümmert sich um die Phimose und beschimpft Elfi: "Schau bei deinem Kind nach, die Vorhaut ist vorne ganz zu, er kann nicht richtig pinkeln." Otto hat ihm geholfen, dass er sich nicht anpinkelt "Danke, Onkel, jetzt werde ich nicht ausgelacht." Kauft ihm eine Dermatop-Salbe und kümmert sich um "Gesundheit und Hygiene". "Wer einem Kind etwas Böses tut ist ein Schwein... Wer Kinder mag, will sie glücklich machen." Chor: " Das Kind hat die Menschen glücklich gemacht, gell, Du hast uns glücklich gemacht." ...langsam verwickeln sich die Figuren in Widersprüche und suchen nach dem Täter. Keiner war es, doch jeder ist es. Pascal bekommt Geld. Alles hat seinen Preis. Früher waren es Süßigkeiten, dann für jedes Popo-Putzen, Zäpfchen reinschieben, Zähne putzen, Pipi machen usw... erhält er Geld, 5, 10, 20 Euro. "Er hat gern Geld verlangt, aber was hätt er denn sonst verlangen sollen... Er wollte geliebt werden, er hat sich gesagt, wenn mich einer liebt, dann muss er zahlen." Irgendjemand gibt Pascal so viel Geld, dass er sich "zu Tode ficken" lässt. "Vögelein, die ihr Leben im Klo verbringen, können nicht fliegen. Ja, Onkel. Was können sie dann. Sie können sehr leicht sterben." In "Made in Deutschland" gibt es keinen Täter. Alle sind Opfer der Gesellschaft, gefangen in tiefer Einsamkeit, Ausweglosigkeit, ohne Geld und alle, Täter wie Opfer, sind auf der Suche: nach Liebe. Franz Xaver Kroetz durchbricht in diesem sozialen Drama die Sprachlosigkeit, zeigt auf die deutschen Missstände und führt die Täter und ihre "Motive sexueller Verbrechen" vor. Er versetzt sich in das Opfer, eine Kinderseele und in die Mittäterinnen, einer Mutter, der das Wasser bis zum Hals steht und einer Wirtin, die wegschauen muss, denn ohne Kunden kann auch sie nicht leben. Kroetz schaut gnadenlos "hin", und der Leser muss "zuschauen". "Lassen wir ihn schlafen, bis er aufwacht." Die "Wirklichkeit" erfährt keiner. Gibt es eine Wirklichkeit? Ja, es gibt sehr viel Wirklichkeit in diesem Stück! Aber wer mag sie so unverblümt, in dieser "kroetzianisch" einzigartigen Sprache hören und sehen? Hoffentlich viele Menschen, denn eine schonungslose Auseinandersetzung mit deutschen Tatsachen, mit der Lebenswirklichkeit der Opfer und dem Umgang mit Kindern als reine "Frischfleisch"-Ressource ist dringend notwendig. Damit sich etwas ändert! Doch dazu muss man erst einmal hinsehen. Dem Stück ist ein engagiertes Staatstheater zu wünschen, das diese Verantwortung übernimmt und dem Zuschauenden diesen erbarmungslosen Blick ermöglicht. Weitere Infos unter: www.rotbuch.de Und demnächst unter: www.kroetz-dramatik.de |
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