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Wolfgang Höhn

Masochistische Toleranz


Bisweilen ist Toleranz keine Tugend, sondern Masochismus. Mit diesem Satz könnte ich es für diesmal auch bewenden lassen und mich am See in die Sonne knallen, aber der ist Eiswasser. Knallen erinnert mich an den Duft früherer Jahre, da hatte Erotik noch Abenteuerliches an sich, heutzutage hat Erotik Charakter. Aus imperativer Sicht zumindest. Wenn etwas anfängt, Charakter zu haben, kann man davon ausgehen, dass der Höhepunkt bereits überschritten ist, was sich bei Erotik als fatal erweisen kann - hat er inhaltlich nicht stattgefunden. "Wenn eine Frau Charakter hat, ist sie schwieriger zu vögeln", brummelt mein Nachbar Paul. Meint er damit weibliche Gelenkigkeit (des Körpers? des Geistes? der Seele?), die proportional zur Hautfalteneinfurchung abnimmt, oder sein altersbedingtes Phlegma? Na, zumindest kann er sich mit dem Gedanken beruhigen, dass Müßiggang zuweilen die einzige Fortbewegungsart ist, die einen voranbringt. Man sollte nur nicht andere mit seiner momentanen Befindlichkeit zumissionieren. Dennoch: Bisweilen ist Toleranz keine Tugend, sondern Masochismus. Es dem Leser zu überlassen, sich zugehörige Bilder selbst auszumalen, hätte den unbefriedigenden Beigeschmack zu 98% sichergehen zu können, unverstanden zu bleiben. Bin ich Oscar Wilde? Was ist so schlecht daran, nicht verstanden zu werden, wenn Rezeptohren ohnehin jede message passgerecht filtrieren?

Geseufzt: Ach! Heutzutage muss alles eine message haben, sonst wendet man sich ab, zappt weg, belächelt großkotzig. Drei Personen befinden sich in einem Raum, einer spielt schön, der andere liest, der dritte übt sich in kreativem Lesen/Denken/Schreiben. Kommt eine vierte hinzu und kommentiert: "Gerade läuft ein neuer Film an, der heißt 'Das große Schweigen'!" Quasseln ist ganz nett, aber Zeitverschwendung. Paul kommentiert: "Ja, mit dem Originaltitel Si tacuisses." Wie? Was? Ich habe doch gar nichts gesagt! Ich wollte doch nur... Warum gleich so aggressiv? Du bist nicht nett... "Ich habe nie behauptet, nett zu sein", knurrt Paul und genau dies denke ich so oft (Bisweilen ist Toleranz keine Tugend, sondern Masochismus.). Der Unterschied liegt in der Verbalisierung seines Gefühlslebens, jede in Worte gefasste Überzeugung schürt Gegenargumente oder heftiges Kopfbewegen, vom Nicken über Wiegen bis Schütteln, bis man auf Nachhinrichten oder Mahlfreizeiten umschaltet oder nur ein wenig Medi(t)ation benötigt.

Alle wollen immer recht geredet haben, schrecklich, dieses Gesabber.
Auslegung: Das Angenehme an Toleranz ist das beinhaltete Schweigen. Das Schlechte an ihr ist der implizierte Aggressionsstau. Sehen Sie: Mit zunehmendem Alter fühlt sich der Mensch der Standspur gefährlich nahe, es rauschen immer mehr fette Limousinen links an einem vorbei, daraus lächeln Vorstandsvorsitzende, Lackaffen oder Heidi Klumöchties. Nicht dass es früher anders gewesen wäre, aber früher hat man vorher einen Joint geraucht, die beste Freundin verführt und war unterwegs zu einer abgefahrenen Fete, da schiss man auf jegliche Fahrspuren in gelebter Toleranz, da genügte ein blitzartiger Sonnenstrahl aus fetten Wolken. Heute muss man sich mit dem Gedanken zufrieden geben, endlich das Rauchen besiegt, Masturbationstechniken ad absurdum perfektioniert und Alkoholkonsum als medizinische Dosis begriffen zu haben. Vernunft hingegen ist, wenn man als Antwort "Midlife-Crisis" erhält. ICH WILL AUCH MAL WIEDER! brüllen wir ungehört, missverstanden, abgekämpft und wenn es dann irgendwann mal so weit ist, vernimmt man von den ersehnt hingebungsvollen Lippen nur die leise gesäuselten Worte: "Macht doch nichts... Kann doch jedem passieren... Weißt du, Liebling, bisweilen ist Toleranz keine Tugend, sondern Masochismus." Woraufhin die Welt wieder auf Pflaumendoppelgröße zurecht schrumpft.

Fazit: Gleichgültig, was Sie wie tun, werden Sie dabei entspannter.



Mit freundlicher Genehmigung von Wolgang Hoehn.


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