Wolfgang Sréter Welttheater in Paris - Kulturbrief für Literatur und Kritik Selten sind jene, die verschwenderisch bleiben, wenn sie es sich leisten können. Sie sind die Könige des Lebens, die man ehrerbietig grüßen muss. Albert Camus Wer die französische Hauptstadt besucht, wird irgendwann auf den Champs-Elysées landen. Dies gilt für den abgerissenen Einwanderer, der sich nicht satt sehen kann an den Reichtümern in den Schaufenstern, die für ihn auch dann unerreichbar bleiben, wenn er zwei oder drei illegale Beschäftigungen gefunden hat. Es gilt für die zahllosen Touristen, die sich mitten auf der Fahrbahn fotografieren lassen und ihr Leben dafür riskieren, gut vor dem Arc de Triomphe postiert zu sein. Das gilt natürlich auch für die Profis der Tour de France, die nach tausenden von Kilometern über den Prachtboulevard strampeln, als ginge es nicht um Geld und Aufputschmittel, sondern um die Ehre. Und das gilt für Herrscher, Könige und Königinnen, die es sich nicht nehmen lassen im offenen Wagen vom Elysée Palast kommend langsam Meter um Meter die ´schönste Avenue der Welt´ zu erobern, im Rücken den Place de la Concorde, wo während der französischen Revolution die Guillotine stand, vor sich den Triumphbogen, der an einem solchen Tag nur von Sicherheitspersonal und ausgewählten Fotografen besetzt ist. Während die Illegalen vor den zahlreichen Flics in Deckung gehen, die auch an normalen Tagen in Doppelstreifen auf den Glück verheißenden elysischen Feldern patrouillieren und mit einer kurzen Kontrolle Träume zunichte machen können, kratzen die Touristen ihr letztes Französisch zusammen, um nach einer Auskunft zu fragen, die dann auf Englisch gegeben wird. Den Helden der Tour der Leiden und denen, die den Paris-Marathon geschafft haben, wird der Weg gewiesen von tausenden Trikolore schwingenden Fans. Bei den Herrschern der Welt dagegen nimmt die Polizeidichte seit den Anschlägen von New York und Washington beängstigende Dimensionen an. Es wird alles zusammengezogen, was im Land verfügbar ist, als befände sich Frankreich im Krieg gegen einen unsichtbaren Gegner. Die Verkehrspolizisten stehen in ihrer Paradeuniform am Straßenrand und salutieren. Die Gendarmerie ist mit permanent quäkenden Walkie-talkies damit beschäftigt die Seitenstraßen zu sichern und den immer chaotischer werdenden Verkehr zu bändigen. Die unauffällig-auffälligen Männer mit dem Knopf im Ohr behalten die Gebäude aus der Belle Epoque im Auge und registrieren jedes Fenster, das sich öffnet, jede Tür, die betreten wird, und jedes Lokal, das man am Liebsten wegen des Staatsbesuchs schließen würde. Eine andere Abteilung der Polizei, meist Frauen, hat die kilometerlangen Absperrgitter unter Kontrolle. Niemand kann während des Défilées die Fahrbahn betreten. Der Herrscher sieht das Volk zwar hinter Gittern, aber er sieht es gut. Er muss nicht, wie König Peter in Büchners Lustspiel ´Leonce und Lena´ einen Knoten in sein Taschentuch machen und den Hofmarschall fragen, an was ihn der Knoten erinnern soll, um irgendwann selbst dahinter zu kommen, dass der Knoten für seine Untertanen steht. Eine weitere Reihe dieser inzwischen weltweit bekannten Eisenkonstruktionen zieht sich in ein paar Metern Entfernung zur ersten Reihe die Bürgersteige entlang und bildet so einen Korridor, der in regelmäßigen Abständen unterbrochen ist. Um in diese Sicherheitszone zu gelangen muss der Neugierige, wie auf einem Flughafen oder in einem Museum, seinen Tascheninhalt vorzeigen und wird auf Waffen abgetastet. Hebt er vor Schreck die Hände, wird er darauf hingewiesen, dass dies kein Überfall, sondern ein Routinecheck ist. Will jemand die einzelnen Parzellen wechseln, um z. B. einen besseren Schusswinkel für seinen Fotoapparat zu ergattern, macht er sich verdächtig, obwohl man das Gefühl nicht loswird, sowieso verdächtig zu sein. Der Auftritt des Herrschers oder der Herrscherin wird von einer unerwarteten Stille begleitet, als hätte jemand den Knopf des Verkehrslärms einfach ausgedreht. Und er ist pompös. Vor einer prächtigen Abteilung berittener Nationalgardisten in weißen Hosen, roten Uniformjacken und goldenen Helmen mit Rosshaar verziert, fahren in zwei gepanzerten Fahrzeugen Terroreinsatztruppen in kugelsicheren Westen, Schilden, Helmen und Schnellfeuerwaffen. Sie sind darauf trainiert jeden Angreifer in Sekundenschnelle auszuschalten. Die Aufmerksamkeit der Zuschauer am Straßenrand gilt eindeutig dem zeitgemäßen Teil der Armee. Die gestriegelten Pferde, glänzenden Helme und stolzen Reiter verblassen dagegen vor der Kälte moderner Technik. Der Staatsgast lächelt und winkt huldvoll nach links und rechts - wie er es gelernt hat. Man weiß nicht, ob er sich sicher fühlt inmitten seiner ganzen Bewachung oder ob er nicht viel mehr in jedem Volk der Welt inzwischen eine permanente Bedrohung sieht, auch wenn dieses Volk je nach Beliebtheit der Hoheit mal mehr, mal weniger mit bunten Fähnchen zurückwinkt. Hinter dem Herrscherauto wieder berittene Prachtsoldaten und hinter den Reitern zwei gepanzerte Fahrzeuge. Das Ganze wirkt wie eine fahrende Festung, die sich durch Feindesland bewegt. Der Zeitung kann man entnehmen, dass dem Staatsgast unter den heutigen Bedingungen von einem ´Bad in der Menge´ abgeraten wird. Besteht er dennoch in unvernünftiger Weise darauf, trifft er auf Sicherheitspersonal in der Verkleidung von Gemüseverkäufern, Kindergärtnerinnen aber auch Asylsuchenden. Nicht jeder Besucher, der sich dem Spektakel auf den Champs Elysées aussetzt, findet den Weg in die "Cartucherie", eine ehemalige Waffenfabrik am Rand der Millionenstadt. Dort hat das Théâtre du Soleil von Ariane Mnouchkine seit Jahren sein Quartier. In der neuesten Produktion mit dem Titel "Le dernier Caravansérail" spielen Polizisten mit ihren Absperrgittern eine wichtige Rolle. Sie schützen die reichen Staaten der Welt vor den armen Habenichtsen, die einen Krümel vom Wohlstandskuchen erhaschen wollen oder um das nackte Leben kämpfen. Mnouchkine hat im Jahr 2001 und 2002 in Frankreich, Australien, New Zealand und der Insel Lombok in Indonesien Flüchtlinge in Auffanglagern interviewt und daraus drei Abende mit Szenen unterschiedlicher Schicksale zusammengestellt. Über die Rückwand der Eingangshalle ziehen sich die weltweiten Flüchtlingsströme. An den Wänden findet man Sprüche in verschiedenen Sprachen und Schriften, die an Gefängniszellen erinnern: Wir sind in die Irre geführt worden! Wir sind in eine Falle gelaufen! Wir haben unser Haus mit unseren Händen zerstört und sind verloren. Unseren Müttern, Vätern und Verwandten fügen wir Schmerz zu. Vor und nach der Vorstellung gibt es Gerichte aus Afghanistan, Bosnien, dem Iran, Tschetschenien und anderen Staaten, aus denen die Bürger flüchten, um nicht weiter verfolgt, eingesperrt oder gefoltert zu werden. Während der Pause ist die Bar geschlossen, aber Wasser steht zur Verfügung. Das Stück beginnt mit einem Sturm. Während aber in Shakespeares Romanze die Gestrandeten auf einer ´bezauberten´ Insel ihr Glück finden, wird das Schiff, das in einem Meer aus Stoffbahnen auf der großen Bühne zu kentern droht, am Weihnachtsabend von Helikoptern der australischen Küstenwache aufs Meer zurückgetrieben. Kinder jammern und winseln, Erwachsene brüllen um ihr Leben, Helikopter dröhnen. Diesen Lärm zerschneiden Lautsprecherstimmen, die den Flüchtlingen kein Recht auf Landung und damit auf Rettung, zugestehen. In diesem Stück gibt es keinen ´Ariel´, einen hilfsbereiten, freiheitsliebenden Luftgeist, es gibt eine Luftmacht, die die Flüchtlinge das Fürchten und Sterben lehrt. Kaum hat man sich von dem Lärm erholt, werden Gitter auf die Bühne geschoben, Menschen durch Löcher im Maschendraht getrieben, Häscher tauchen aus dem Nichts auf, zerreißen Familien, prügeln auf Flüchtlinge ein und führen sie in Handschellen ab, wenn sie ihrer habhaft werden. Meist bleiben die Alten zurück, sie haben nicht mehr die Kraft für die letzten Meter, die ihnen das Überleben sichern könnten. Angesichts der etwa 27 Millionen Menschen, die weltweit auf der Flucht sind, ein hoffnungsloses Stück. Auch während des Szenenumbaus hetzen die Darsteller, die vom Théâtre du Soleil z. T. aus den Flüchtlingslagern heraus engagiert wurden, über die Bühne, als gäbe es nie auch nur eine Minute Ruhe in diesem Kampf. Die einzelnen Figuren werden auf Rollbrettern bewegt, sie haben „keinen Boden unter den Füßen“, sind in ihren Handlungen immer von jemand abhängig, der vor oder hinter ihnen auf dem Boden kauert und sie bewegt. Dies ist die vielleicht eindrucksvollste Idee der Regisseurin. Das Unglück der Darsteller fährt den Theaterbesuchern in die Magengrube, kein Wunder also, wenn die Kulturkritik der Theatermacherin Agitprop vorwirft. Politisches Theater wird zwar immer wieder eingefordert, aber mehr Abstand bitte und keine Schuldzuweisungen. Am Ende der Vorstellung gibt es stehende Ovationen für das vierzigköpfige Ensemble von den zumeist jugendlichen Zuschauern. Die Traurigkeit über den Zustand der Welt entlädt sich in frenetischen Applaus und immer neue Vorhänge. Plötzlich kommt einem der Gedanke, einer der Staatsgäste würde, anstatt den Louvre, Notre Dame, das Centre Pompidou oder eben die Champs-Elysées zu bestaunen, den Wunsch äußern, dieses Stück zu sehen. Er säße allein, geschützt durch Absperrgitter in dem gut 500 Zuschauer fassenden Theater und sähe Menschen auf der Flucht, die vor Absperrgittern kapitulieren müssen. Am Ende der Vorstellung dann Applaus von einem, der die Welt so macht, wie sie ist: Eine Spur der Verwüstung zieht sich über den Planeten! Von elysischen Feldern kann keine Rede sein. Zu Wolfgang Sréter : Geboren in Passau. Lebt als freier Autor in München. "Der falsche Fräser", Erzählung, lichtung verlag, Viechtach ISBN 3 - 929517 - 55 - 8 |
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