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Wolfgang Sréter

Zehn Minuten zu spät

Sie war schlagartig wach, aber sie rührte sich nicht. Das Geräusch kam eindeutig von der Terrasse, oder aus der Küche. Wenn ihr gutes Ohr sie nicht täuschte, hörte sie das Kratzen eines Schraubenziehers auf Kupferblech. Noch kam das Geräusch von außen. Das Werkzeug würde sich unweigerlich vorarbeiten. Sie hätte gerne gewusst, wie spät es ist, dazu hätte sie aber ihre Brille gebraucht. Ihr Mann drehte sich auf den Rücken. Er begann durch den Mund die abgestandene Luft tief in die Bronchien zu ziehen. Nicht um alles in der Welt hätte sie ihn geweckt. Vorgestern Nacht hatte er um drei Uhr alle Lichter angeschaltet und so geschrieen, dass sie den Kopf unter das Kissen stecken musste. Mochten sie zu dritt über ihn herfallen, ihn an die Heizung fesseln, auf der er immer seine Unterhosen auslüftete, ihn knebeln, bis die Augen aus den Höhlen quollen. Sie würde sich tot stellen, so tot, als wäre sie wirklich tot.

Der Schraubenzieher machte eine Pause. Wahrscheinlich wurde er ausgewechselt gegen das Stemmeisen. Sie würden es nicht leicht haben. Im Haus waren alle Türen abgeschlossen. Der letzte Gang nach dem Fernsehen führte sie über den Keller und das Erdgeschoß bis ins Schlafzimmer. Wenn einer über die Terrasse kam, wartete schon im Wohnzimmer die nächste, zermürbende Hürde. Auch auf einen Profi. Mochten sie das Telefon aus der Wand reißen, sie hatte den Hauptanschluss auf ihrer Seite des Ehebettes.

Nie hätten sie in dieses Haus ziehen dürfen. In der früheren Wohnung hatte sie keine Angst gehabt. Zwölf Parteien in einem Block. Da lagen die Chancen bei eins zu acht, vor allem wenn man nicht im Erdgeschoß wohnte. Aber hier, unter den beiden Blautannen und der Mauer zur Straße hin... Ihre Handtasche stand im Flur. Das Geld war im Wandsafe, den sie vom Vorbesitzer übernommen hatten. Morgen würde sie mit dem Bus nach Salzburg fahren. Die österreichischen Scheine hatte sie mit einer Sicherheitsnadel in das Futter ihres Sommermantels geheftet. Man konnte nie wissen, Salzburg war bekannt für seinen Regen.

Sie musste sich anstrengen, um noch etwas zu hören. Vielleicht war es doch das Küchenfenster. Vor kurzem hatte man zwei Querstraßen weiter einen erwischt, der war auf Kippfenster spezialisiert gewesen. Bis zu sieben Kippfenster in einer Nacht, sogar am Heiligen Abend. Ein Profi. Aber an der Küche würden sie keine Freude haben. Bei ihr gab es keine Teedose hinter den Tassen mit drei- oder vierhundert Mark. Und wenn sie verreiste, war das Vorgekochte für ihn im Keller. Im Kühlschrank stand nur das angebrochene Bier vom Vorabend neben der Margarine.

Aber der Schlüsselbund. Es durfte nicht wahr sein! Sein Schlüsselbund lag auf dem Kühlschrank. Ihr Herz war nun lauter als sein Atem. Er hatte sich alle Schlüssel nachmachen lassen, wollte nicht ersticken, wenn es brannte. Typisch! Nun war Feuer unter dem Dach, aus eigenem Verschulden heraus. Sie spürte einen Druck auf der Brust. Mit vierzehn hatte sie begonnen zu arbeiten, aber immer alles zur Bank. Keine unnötigen Ausgaben, bis auf dieses verfluchte Haus. Sie verkrampfte sich. Mit einem Handtuch, das sie für solche Fälle unter dem Kopfkissen bereithielt, wischte sie mechanisch über Stirn, Nase, Oberlippe und Brust. Als könnte sie damit die Kreise vor ihren Augen verjagen und den Hustenreiz unterdrücken. Nun war es soweit...


Sie erwachte spät. Sie versuchte den Bus noch zu erreichen, aber zehn Minuten fehlten ihr. Mit Handtasche, Regenschirm und Sonnenhut stand sie auf einem leeren Parkplatz. Sie schimpfte laut und mit sich selbst. Am Abend erfuhr sie von dem Überfall. Der Bus war ausgenommen worden. Von Profis. Handtaschen, Kameras, Mäntel, sogar ein Regenschirm und mehrere Sonnenbrillen. Alles weg. Die Polizei brauchte Stunden für die Ermittlungen, denn alle redeten durcheinander. Darauf war keiner vorbereitet gewesen. Auch nicht der Busfahrer.

So ein Unglück, dachte sie, zehn Minuten zu spät.


Zu Wolfgang Sréter :

Geboren in Passau. Lebt als freier Autor in München.
"Der falsche Fräser", Erzählung, lichtung verlag, Viechtach ISBN 3 - 929517 - 55 - 8
Bis 24. 8. bei den Schloßfestspielen in Ettlingen "Das Cabinet des Doktor Caligari - ein Schauspielmusical"
Theater Blaue Maus München "Der Jazzdirigent - ein Solo für eine Schauspielerin", Premiere 22. Okt. 2003