Wolfgang Sréter Die griechische Göttin Kent keuchte bis in den zweiten Stock, dort hielt er sich am Treppengeländer fest. Das Blut staute sich in den Engstellen der Venen, die er nicht wahrhaben wollte. Er preßte die linke Hand gegen das Herz, als könnte er damit das Rasen aufhalten. Dann zwang er sich Stockwerk für Stockwerk weiter nach oben. Er wußte, was passiert war, er hatte es oft genug mitgemacht, und hielt es für eine Art Fegfeuer, das ihn schon zu Lebzeiten strafte. Er hätte gerne geflucht, über die Treppen, über sein Mitleid, aber der Atem fehlte ihm. Der Eingang im sechsten Stock war von innen verbarrikadiert. Wahrscheinlich hatte jemand die Truhe im Gang gegen den Türstock geschoben, die Kent nach dem Tod seiner Frau verschenkt hatte. Er drückte mit der Schulter gegen die Türe und zwängte sich in den Spalt, der nur für seine Hände und ein Bein Platz ließ. Der Schweiß lief aus den Achselhöhlen und sammelte sich am Gürtel. Er legte die Stirne auf den Handrücken, nahm alle Kraft zusammen und fiel in den Gang. Warum hatte er plötzlich, mitten unter dem Zeitunglesen das Gefühl gehabt, der Maler könnte einen seiner Zusammenbrüche haben? Große Mengen Schnaps in kürzester Zeit, kein Essen und langsam, fast schleichend die Zerstörung. Am Ende einer extensiven Schaffensperiode war er am meisten gefährdet. Wenn Kent ihn nicht rechtzeitig erwischte, blieben nur zerbrochene Rahmen, zerfetzte Leinwände, in Brotreste gebohrte Pinsel, Alkohol vermischt mit Terpentin. Vielleicht hatte Schwarz mit einem Messer bereits den Daumen aufgeschnitten und das Blut tropfte über seine Bilder. Eine Nachricht aus dem Radio konnte das Drama auslösen, das in ihm schlummerte und wuchs wie ein Schimmelpilz, eine freundliche aber unpassende Bemerkung der Nachbarin, der Scherz des Postboten, die Farbe Orange der Müllabfuhr oder ein Hubschrauber, der über dem Haus kreiste, bis er drüben auf dem Dach des Krankenhauses landen konnte. Der Anblick des Krankenhauses selbst, das Leid und der Schmerz, die nach Ansicht des Künstlers über Gesunde in diesem Gemäuer hereinbrachen, und die Angst davor, auf eine Bahre geschnallt vom Operationssaal in die Sterbekammer abgeschoben zu werden, weil der Körper schon verkrebst war, angefangen von den Hoden über Leber und Lunge, bis hin zum Kehlkopf, zerfressen, zerfranst, aufgebläht und eitrig. Diesmal aber war es anders. Keine Scherben, kein Geschrei, kein Gestank, kein verzweifelt Tobender. Vorsichtig schlich Kent durch den Gang zum Atelier, denn Schwarz hatte ihn schon einmal von der Küche her angesprungen und wäre der Hausmeister dem Maler nicht körperlich überlegen gewesen, er hätte ihn mit dem Messer nicht nur verletzt, sondern getötet. Als Kent ihn sah, hielt er den Künstler für tot. Er hatte sich selbst auf dem großen Ateliertisch aufgebahrt, bedeckt mit Gesichtern, herausgerissen aus den eigenen Bildern. Links und rechts neben dem Kopf schwarze Kerzen. Die Atelierfenster waren zugehängt, und Kent hatte den Eindruck er würde sich bereits in einem Zwischenreich befinden, das jeder durchwandert, bevor ihm ein Platz im Himmel oder in der Hölle zugewiesen wird. Wahrscheinlich weiß nur noch der Hausmeister, was es mit den Gesichtern auf sich hat, die der Maler seit Jahren malt und anschließend wieder vernichtet. Eine lange Nacht hat diese Geschichte gedauert, zwei Flaschen Pernod lang, und sie hat sich ereignet, bevor Kent überhaupt die ersten Bilder gesehen hat und anschließend seiner Frau gesteht: Siehst du wie ich zittere? Aus diesen Gesichtern springt dich das Leben an. Immer noch sieht er den Künstler weinend vor sich: Sie war eine griechische Göttin. Meine Geliebte! Mit einer Eleganz, wie sie lediglich Göttinnen gegeben ist. Einer Noblesse, die man nur noch bei Ausgrabungen findet und Stil! Weißt du überhaupt, was Stil ist? Der Hausmeister könnte die Frau genau beschreiben, groß, hager, mit festen Händen, blonden Haaren, gebrochener Nase, schmalen Lippen und einer tiefen Falte zwischen den Augenbrauen. Und jung, zumindest damals. Manchmal, wenn Kent in seinem Sessel einnickt und aus einem Traum hochfährt, meint er, er selbst sei bei diesem Kostümfest, diesem Gschnas dabeigewesen, wo die Geliebte in goldenen Sandalen, weißem Gewand mit Gürtel, eine Schulter frei und geflochtenem Band im Haar schon an der Saaltüre mit einem Mann streitet, der ihr einen roten Punkt auf die Nase pinseln will. Trägt eine griechische Göttin, auch wenn sie es nur für eine Nacht sein kann, eine rote Nase? Eine Clownsnase? schreit Schwarz den Hausmeister an und erwartet keine Antwort. Damit beginnt das Unglück des Abends, und es endet, als man im Morgengrauen die Geliebte auf einem Tisch stehend, nackt durch den Saal trägt und vor ihm, dem römischen Imperator Schwarz abstellt. Ein Träger kommt den heiligen Schenkeln zu nahe, einen Augenblick nur. Es ist möglich, daß er ihnen vorher schon wesentlich näher war. Er hat die Göttin, bevor sie im Triumphzug durch den Saal getragen wurde, in die Bar entführt. Aber dieser Augenblick genügt, um den römischen Imperator zu entfesseln, und die Flamme des Aufruhrs zu entfachen. Die Hitze der Gefechte entzündet den Saal, die Bar, das Treppenhaus, die Garderobe im Erdgeschoß. Die Kellner fliehen in die Küche, vorbei an Rittern, Seeräubern, Jungfern und Schwertträgerinnen. Am Ende geht mancher geschlagen nachhause, gestützt auf seine Begleiterin, deren Fächer als Stichwaffe, die Seidenschärpe als Strangulierschlinge und das Deospray in Verbindung mit einem Gasfeuerzeug als Flammenwerfer benutzt wurde. Nur Schwarz, der zierliche, schmalschultrige, leicht gebeugte Schwarz verläßt als Sieger den Saal, ohne Kratzer und Platzwunde, den Lorbeerkranz nach wie vor keck in die Stirn geschoben. Und trotzdem. Etwas ist zerbrochen in ihm, nicht weil er alleine das Schlachtfeld verläßt. Er könnte es nicht benennen, aber in seinen Bildern nehmen die Landschaften ab und die Menschen zu. Selbst die Körper verschwinden mit der Zeit, bis nur noch Gesichter übrig bleiben, in denen der Maler versucht das Helle und das Dunkle im Menschen zum Ausdruck zu bringen. Das Gesicht und die Fratze, Noblesse und Gemeinheit, Maske und Abgrund. Die Gesichter malt er auf Leinwände drei auf fünf Meter, und Kent erschrickt, als er zum ersten Mal diese Kunst sieht. Der Hausmeister hat früher in einem Museum gearbeitet, aber das Leben war dort nicht ausgestellt. Es sind Gesichter, die ihm vor allem morgens begegnen, wenn er Schnee vom Gehsteig schaufelt, wenn er an einem kalten Sonntagnachmittag versucht, die Heizung wieder in Gang zu bringen, wenn er den Christbaum in einer der großen, alten Wohnungen in den Ständer einpaßt und dafür einen Pappteller mit harten Zimtsternen entgegennehmen muß. Kent stand ratlos vor der Leiche. Einerseits war Schwarz schon aus Zuständen auferstanden, wo selbst die Ärzte ihn aufgegeben hatten, andererseits wollte sich der Hausmeister nicht eingestehen, daß er zu spät gekommen war. Das Atelier war aufgeräumt, als hätte der Maler tatsächlich einen Schlußstrich gezogen, und Kent erschrak, als er die Stoffbahn im Halbdunkel von der Decke hängen sah. Was sollte nun aus der Ausstellung werden? Es war mühsam gewesen, den Künstler davon zu überzeugen, seine Bilder in der Öffentlichkeit zu zeigen. Kent hatte eine Galerie gefunden, sich um Plakate und Einladungen gekümmert, einen Kunsthistoriker aufgetrieben, der die Einführung halten sollte. Schwarz hielt den Professor für ein Arschloch. Er kündigte an, die Eröffnung zu boykottieren, drohte damit leere Leinwände aufzuhängen. Kent las die Aufschrift auf dem Transparent: Auf diesem Planet ist Kunst sinnlos geworden ! Ihm fällt der Nachmittag ein, an dem seine Frau diesen Planeten verlassen hat. In der Küche sinkt sie ihm in die Arme, in jeder Hand eine Einkaufstüte. Er kniet neben ihr, weiß nicht, ob er ans Telefon flüchten soll oder ihre Hand halten. Sie krampft, wie früher schon manchmal. Er entscheidet sich fürs Telefon und ruft den Arzt. Der Arzt ist unterwegs zu einem Notfall. Kent rennt in die Küche zurück und reißt den Schirmständer um. Es knallt, als würde ein Lastwagen durch die Mauer brechen. Seine Frau bewegt die Lippen. Er legt sein Ohr an ihren Mund. Plötzlich fallen ihm die Tabletten ein. Als er sich aufrichtet, sieht er in ihre starren Augen. Er holt eine Kerze, zündet sie an, hält sie vor ihren Mund. Die Flamme bewegt sich nicht. Heißes Wachs tropft auf ihre blauen Lippen, aber der Mund bleibt ohne Zucken. Da nimmt der Hausmeister die Hände seiner Frau und hält sie noch lange warm. Nachdem die Leichenwäscherin ihre Arbeit beendet hat, bringt der Maler eine Zeichnung mit dem Gesicht der Hausmeisterin. Es ist alles da, der faltige Hals und die eingefallenen Wangen, die schiefen Zähne und die strahlenden Augen, das streng nach hinten gekämmte Haar und die kleine Locke in der Stirn. Der große Leberfleck am Kinn und die Löcher in den Ohren, die schon dem jungen Mädchen Schmerzen bereiteten. So mußt du sie in Erinnerung behalten, beschwört er den Hausmeister, dann lebt sie ewig. Er zwingt ihm einen Schnaps auf, und noch einen, bis Kent nur noch trinkt und weint. Bei der Beerdigung stützt ihn Schwarz. Die Trauergemeinde ekelt sich vor den Ausdünstungen des Witwers und sieht betreten zur Seite, als der Hausmeister mit der Schaufel Erde auf die Kranzschleifen häuft, anstatt sie in das schwarze Loch zu schütten. Aber der Künstler hat ihm das Leben gerettet, denn an dem Abend, als zwei Männer seine Frau wegbrachten, sah sich der Hausmeister auf einer Brücke stehen und springen. Kent setzte sich benommen auf einen Hocker, der für Modelle bestimmt war. Erst heute morgen hatte ihn der Maler wieder mit einer seiner Botschaften gedemütigt, die er in den Briefkasten für Beschwerden geworfen hatte: Der Maler ist deshalb ein Maler, weil er erschaut, was andere mit ihren blinden Augen nur erahnen. Du Kent, da hilft die beste Brille nichts, gehörst zu den Blinden! Was sollte er tun? Er fürchtete sich davor Schwarz zu berühren, er hatte Angst vor der Kälte und Starrheit seines Körpers. In diesem Moment setzte der Maler sich auf. Der Hausmeister sah drei blutige Kreuze auf dem nackten Körper. Der Tote sprang vom Tisch und stellte sich auf wie eine Marmorfigur im Garten von Versailles. Während du immer kränker wirst, strotze ich vor Gesundheit! Ich habe meine drei Dämonen vertrieben. Er zeigte auf die Kreuze, die er sich mit einem Messer geschnitten hatte. Zuerst vertrieb ich den Alkoholismus. Er saß in meiner Leber. Ich mußte tief schneiden und dann die Luft von innen gegen das Zwerchfell pressen. Der Alkoholismus ist unsichtbar, aber er stinkt bestialisch. Wie ein Schauspieler hob der Künstler die Hand, um seine Worte zu begleiten. Ich kann nun trinken soviel ich will! Als zweites vertrieb ich die Kunst. Sie saß der Leber genau gegenüber und fiel aus mir heraus wie ein Pferdeapfel. Ich habe sie in die Kanalisation gespült. Schwarz versuchte ein paar kurze Schritte auf den Zehenspitzen und wedelte mit den Armen als wollte er abheben. Kent, der ihn von unten her beobachtete, wäre nicht verwundert gewesen, wenn er zum Fenster hinausgeflogen wäre. Aber, der stärkste Dämon saß genau über dem Nabel: Die griechische Göttin. Du kennst sie nicht... Doch, wollte der Hausmeister rufen, sie ist groß, hager, mit feinen Händen und einer Nase, die du ihr gebrochen hast..., aber Schwarz ließ ihn nicht zu Wort kommen. Sie war, du wirst es nicht glauben, der fetteste Zwerg, den ich je zwischen Daumen und Zeigefinger zerdrückt habe. Nun bin ich geheilt. Kent sank in sich zusammen. Wahrscheinlich war er nach dem Tod seiner Frau tatsächlich von der Brücke gesprungen und der Hocker auf dem gewöhnlich Modelle saßen, stand mitten im Fegfeuer. Deutlich hörte er die Stimme des Priesters, der ihm vor vielen Jahre das Schuldbekenntnis eingebleut hatte: Dort aber wird die Zeit sich von einer anderen Seite zeigen: Ein Tag wird sein wie tausend Jahre! Zu Wolfgang Sréter : Geboren in Passau. Lebt als freier Autor in München. "Der falsche Fräser", Erzählung, lichtung verlag, Viechtach ISBN 3 - 929517 - 55 - 8 Bis 24. 8. bei den Schloßfestspielen in Ettlingen "Das Cabinet des Doktor Caligari - ein Schauspielmusical" Theater Blaue Maus München "Der Jazzdirigent - ein Solo für eine Schauspielerin", Premiere 22. Okt. 2003 |
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