Wolfgang Sréter Das Plakat Die Kinder tanzten wie Bälle auf den Wellen. Sie schlugen mit der flachen Hand aufs Wasser, und Spritzer blitzten in der Sonne. Sie würde dieses Bild in ihrem Kopf mitnehmen, wenn sie von hier verschwand. Vom Alter her hätten es ihre Kinder sein können, aber sie hatte keine Kinder. Sie hatte einen Bruder. Sparen alleine half nicht. Jonglieren wäre notwendig gewesen, aber vielleicht fehlten Glück, Geschäftssinn und fester Wille, um aus dem Erbe der Mutter mehr zu machen. Das letzte Geld war aufgezehrt worden für ein paar Bungalows, ein Restaurant am Strand und ein Atelier für den Bruder. Mit Schwung hatten sie angefangen Dächer auszubessern, Spaliere zu befestigen, Rohrleitungen abzudichten, Wege zu pflastern, Wein zu pflanzen. Nach langem Bitten war der Bruder bereit gewesen, eigene Kacheln zu brennen für die neuen Bäder, mit Ton vom Festland, denn auf der Insel gab es nur Steine und ein paar vom Wind verdrehte Olivenbäume. Eine Zeitlang hatte es so ausgesehen, als würde der Ort einen Aufschwung nehmen. Familien mit Kindern und Rucksäcken füllten den kleinen Platz, um den die Häuser wie ein Dorf herumgebaut waren. Ihr Domizil lag abseits, aber die Gäste waren begeistert und versprachen sie weiterzuempfehlen. Sie machten Notizen in Reiseführern, nahmen Kärtchen mit, ließen Adressen da und genossen den Wein, der am Abschiedsabend reichlich und umsonst floß. Als sie gestern in einem Schlafraum auf eine Kakerlake getreten war, hatte das Knacken unter ihrer nackten Fußsohle Panik ausgelöst. Sie waren am Ende. Es war nicht möglich, die leerstehenden Häuser ständig vom Sand frei zu halten, den Putz, der in den Winterstürmen fleckig wurde, zu erneuern, die zerspringenden Kacheln in den Bädern auszubessern. Sie putzte, kochte, räumte auf, organisierte die Buchungen und fuhr mit dem alten Wagen in die Stadt um einzukaufen, denn Angelus hatte keinen Führerschein. Angelus hatte Talent. Von frühster Kindheit an. Er saß im Atelier und modellierte. Wie alle Künstler quälte er sich, konnte nachts nicht schlafen und am Tag nicht arbeiten. Sobald es die Verhältnisse zuließen, würde er hier auf der Insel in Bronze arbeiten. Er sah sich wie ein Dirigent vor dem Kran stehen, der das kostbare Material auf Paletten aus dem Bauch des Schiffes holte. Er sah sich die Küste entlangschreiten, vorbei an seinen Skulpturen. Nur seinetwegen kämen eines Tages die Menschen auf die Insel, die er dann, mit ausgebreiteten Armen, seine Heimat nennen würde. Begeistert würden sie ausrufen: Wenn es etwas gibt, wofür es sich lohnt zu leben, dann ist es die Betrachtung des Schönen. In Gedanken zählte Angelus breits die Scheine, denn eine Figur würde mehr an Einnahmen bringen als alle Feriengäste zusammen. Er haßte es, wenn sie ohne Erlaubnis sein Atelier heimsuchten und ihm Ratschläge erteilten. Teller hätte er aus kostbarem Ton brennen sollen. Stumpfsinnige runde Dinger, mit dem Namen der Insel. Oder Salatschüsseln, nicht zu groß, damit sie in den Koffern noch Platz fanden, putzige Schüsselchen in gefälligen Farben. Auch die Schwester wäre zufriedener gewesen, wenn er ab und zu Praktisches zustande gebracht hätte. Aber ein Künstler mußte frei sein, frei von Salatschüsseln und Zwängen. Wenn er in seinem Leben nur eine Figur erschuf, die vollkommen war, dann verblaßten dahinter alle unbezahlten Rechnungen, das leerstehende Restaurant und die Altersversorgung. Es war nicht richtig gewesen, die Schwester anzuschreien, als sie weinend sagte, du bringst mich um. Er war hinunter ans Meer geflüchtet und am Strand eingeschlafen. Die Schwester hatte ihn mitten in der Nacht geweckt, und engumschlungen, wie ein Paar, kehrten sie ins Haus zurück. Er mußte sich keine Vorwürfe machen. Er brauchte die wechselnden Farben des Wassers, das weiche Licht, die Wärme. Er brauchte Einsamkeit und Ruhe. Er war kein Handwerker, der nach dem Sturm seine Tage auf zerfetzten Dächern verbrachte, kein Hausmeister, der den ekligen Kindern der Gäste hinterherbrüllte, und keiner, der für Abrechnungen geeignet war. Schon als die Mutter zwischen den Krankenhausaufenthalten kaum ansprechbar zuhause lag, lastete die ganze Verantwortung auf ihr. Angelus konnte das Leid nicht ertragen, kein Blut sehen, Erbrochenes nicht aufwischen und keinen Kot riechen. Er war unfähig die Mutter zu füttern, weil seine Hände stärker zitterten als die der alten Frau. Wenn die letzte Kiste hier verpackt war, würde sie nur noch für sich selbst da sein. Nie hatte der Bruder gefragt, warum ihre Kraft erschöpft war, aber vielleicht mußte er das nicht, denn jeder konnte sehen, wie sie jeden Tag weniger und weniger wurde. Nur das Segelboot war ihr geblieben. Damit schoß sie in den seltenen Ruhepausen auf das Meer hinaus. Sie hatte mit der Zeit gelernt, auch bei starkem Wellengang die Dünung zu überwinden. Die Fußschlaufen, die sie fest und sicher im Boot hielten, waren bis zum Zerreissen gespannt, wenn sie sich weit hinauslehnte über die Bordwand. Die angespannten Muskeln ihres Körpers gaben ihr das Gefühl, über die Welt reiten zu können. Sie mußte das Boot verkaufen, wie alles, was sie hier aufgebaut hatte. Der Bruder würde unten am Wasser stehen und auf die weißen Schaumkronen hinausblicken. Hatten außer der Kunst noch andere Gedanken in seinem Kopf Platz? Dachte nur sie an die Versicherung? Angelus fürchtete die Segelabenteuer seiner Schwester und die Bitte, sie zu begleiten. Er fürchtete die unberechenbare Kraft des Windes, die Kälte der Brecher, und er zitterte auf der blauen Scheibe, wenn die Schwester es soweit trieb, daß kein Land mehr zu sehen war. Der Magen zog sich krampfartig zusammen, die Füße schmerzten in den engen Nylonschlaufen, das Gehirn versuchte am Horizont Halt zu finden. Trotzdem hatte er in den Ausflug eingewilligt, der Schwester zuliebe. Er hatte den Brief eines Galeristen bekommen. Er sollte in Berlin ausstellen, in die Stadt des Umbruchs ein Denkmal der Ruhe setzen. Er sah die Schwester von der Seite her an. Er würde ihr diese Ausstellung widmen. Er bewunderte sie, wenn sie ohne Schwimmweste die Küste verließ, zugleich fühlte er sein Leben an lächerlichen Schnüren hängen, die bei jeder Ungeschicklichkeit reißen konnten, mehr noch, er hatte Angst um seine begnadeten Hände, die sein Kapital waren. Nach einer Wende trieb sie das Boot hart in den Wind. Die Böen drückten die Segel aufs Wasser. Das Ufer war verschwunden, sie waren auf dem Weg nach Afrika. Als die Fußschlaufen der Schwester mit einem Ruck zerrissen, sie nach hinten überkippte und mit dem Kopf an die Bordwand schlug, schoß das Boot noch eine Strecke auf dem eingestellten Kurs dahin. Dann stellte sich der Bug in den Wind, und die Segel begannen zu flattern. Ohne Blick zurück segelte Angelus vorsichtig der Küste zu. Die Ausstellung in Berlin war überschattet von dem tragischen Unfall. Trotzdem war Angelus zufrieden, denn die Kritiken machten aus ihm endlich einen hochbegabten, jungen Künstler, dessen Skulpturen und Zeichnungen das Licht des Mittelmeeres atmeten und Ruhe in die Metropole des Umbruchs pflanzten. Die maßgeblichen Magazine lobten vor allem das Portrait einer jungen Frau, ähnlich dem Gesicht des Künstlers, das als Plakat die Ausstellung ankündigte und in der Galerie reißenden Absatz fand. Zu Wolfgang Sréter : Geboren in Passau. Lebt als freier Autor in München. "Der falsche Fräser", Erzählung, lichtung verlag, Viechtach ISBN 3 - 929517 - 55 - 8 Bis 24. 8. bei den Schloßfestspielen in Ettlingen "Das Cabinet des Doktor Caligari - ein Schauspielmusical" Theater Blaue Maus München "Der Jazzdirigent - ein Solo für eine Schauspielerin", Premiere 22. Okt. 2003 |
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