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Henrik Hieronimus

Ausgeträumt


Es ist Sonntagnachmittag. Ich sitze in einem kleinen Lokal nahe des Bahnhofs und bin fremd in der Stadt. Leise Musik füllt den mit leeren Tischen und Stühlen ausstaffierten Raum, dessen schmutzig gelb gestrichene Wände vor meinen Augen wabbern. Die Bedienung, ein stolzes Geschöpf mit schwungvollen Bewegungen, Piemont-Kirschenarsch, aufwerfendem Schmollmund und pechschwarzen Augen serviert ein Bier. Sie schenkt mir ein Lächeln, schlenkert den Strich auf meinen Deckel und verschwindet wieder hinter dem Tresen. Eine erstklassige Frau, an der schon so mancher Gast einen schmutzigen Gedanken verschwendet hat. Aber ihr Gesicht verrät, dass sie gewappnet ist. Ich verliere kein Wort und genehmige mir einen großzügigen Schluck. Nach einer Weile spazieren zwei pomadige Typen ins Lokal. Sie setzen sich an den Tresen, sprechen Spanisch, fangen ein Gespräch mit der Bedienung an.
Langsam geht mir der Tabak aus. Vorsichtig drehe ich letzte Fasern zusammen, stecke die Lunte ins Gesicht, gebe mir Feuer. Blaudunstender Qualm züngelt zur Decke, dreht wie ein Schopf um die rotierenden Blätter des summenden Ventilators. Es hängt ein Bild an der Wand. Eine Schwarzweiß-Fotografie, die einen schwarzen Pianisten darstellt, wie er schwitzend in die Tasten haut. Er scheint seine Sache gut zu machen.

Das Glas ist leer, die Bedienung aufmerksam, kurz darauf steht ein weiteres Bier auf dem wurmstichigen Tisch. Frischer Schaum quillt über meine Hand. Vielleicht würde sie mir die Stadt zeigen? Nein, sie verrichtet lediglich ihren Job. In wenigen Stunden geht mein Zug. Die Lesung war anstrengend genug gewesen. Falle nicht auf Hirngespinste rein. Trink das Bier und sei froh, es überstanden zu haben. Das ganze rosarote Geschwafel über Literatur hat dich ganz kirre gemacht. Aber jetzt bist du außer Reichweite. Die Hyänen sind weitergezogen.

Beide Caballeros verlassen nach einem Drink das Lokal. Sie winken der Bedienung aufwändig zum Abschied. Dann sind sie raus. Ich kippe das goldene Nass. Eine Krähe spreizt ihr Gefieder in meiner Magengegend. Vielleicht sollte ich eine Pause einlegen. Der vergangene Abend hat an den Reserven gezehrt. Noch immer sehe ich ihre beflissenen Visagen, höre raubgierige Stimmen, den selbstgefälligen Ton intellektueller Aasgeier, die zu Frieds Gedichten masturbieren und mit ausgestreckten Armen rücklings in ein geblümtes Himmelbett fallen.
"Darf ich Ihnen noch was bringen?", fragt das Mädchen. "Sie sollten zur Abwechslung mal was essen. Nur einen Happen. Es ist nicht gesund soviel zu trinken ohne etwas gegessen zu haben."
"Sie sind ein wahres Gedicht.", entgegne ich.
"Wie meinen Sie?"
"Spare Ribs mit scharfer Honigsauce, bitte."
Sie bringt reichlich, dazu Salat, Pommes Frites, Sauce und ein frischgezapftes Bier. Vom Tresen beobachtet sie, wie ich es mit der Portion schwer habe. Im Angesicht des Schweißes will ich nicht enttäuschen, nage, kaue, schlinge was eben in den Mund passt und spüle mit Bier, was nicht runter gehen will. Wie ein Schwein musste ich aussehen. Ein wankender Regionalliga Schriftsteller mit fettigen Fingern, die Rippchen zwischen Keilerzähnen wenden.
"Schmeckt ´s?"
Ich nicke.
"Sie essen wie jemand, der seit Tagen nichts Anständiges auf den Teller bekommen hat."
"Sie kochen vorzüglich.", schmatze ich.
"Das höre ich gerne. Aber es war mein Bruder. Er ist der Koch. Wir führen das Restaurant seit zwei Jahren. Sie sind nicht von hier, stimmt´s?"
"Stimmt."
"Wo kommen sie her?"
"Nordrhein-Westfalen."
"Du meine Güte!"
"Sie sagen es."
"Darf ich fragen, was Sie her verschlagen hat?"
"Ich habe mich verirrt."
"Ach was!", lacht sie und macht eine wegwerfende Handbewegung. "So weit weg von zuhause. Das geht doch nicht. Sie erlauben sich einen Scherz mit mir."
"So wirklich weiß ich es selber nicht."
"Möchten sie noch was trinken?"
"Gerne."
Ich erledige das Bier. Anschließend gehe ich auf´s Klosett. Es ist äußerst sauber. Der Seifenspender funktioniert. Neben dem Kondomautomat hängt ein Zigarettenautomat. Ich ziehe eine Schachtel. Mein Kreislauf fängt sich. Ich hatte nie eine Stammkneipe. Sollte ich jemals eine haben, würde ich stets diese frequentieren. Zurück im Lokal bezahle ich die Zeche. Das Mädchen bedankt sich für´s Trinkgeld, lächelt ein letztes Mal mit ihren Perlmutt glänzenden Zähnen. Das Beste was mir diese Stadt entgegengebracht hat.

Nur wenige Schritte zum Bahnhof. Gleichwohl ich überwiegend gesessen habe, sind meine Beine wie aus Blei gegossen und bereiten jedem Schritt eine Qual. Ich finde das Gleis. Tauben picken den matten Betonsteig nach Brotkrümeln ab. Hie und da schrecken wartende Passagiere die Vögel auf. Sie schreiten in gekrümmtem Gang vorüber, studieren Fahrpläne.

Der Zug kehrt wie ein stählender Wurm auf kiesgebetteten Schienen ein. Rolltreppen befördern Menschen aus dem Bauch des Bahnhofes. Sie strömen von überall her, behäbig, hastig, schnell. Im Gedränge finde ich einen Platz am Fenster. Der Trillerpfeife des Schaffners folgen die Türen. Sie fallen schlagartig zusammen. Mit einem Ruck setzt sich der Zug in Gang. Den Fahrschein halte ich in schwitziger Hand.