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Gudrun

Omas Traum

Sie war alt. Sie war schon sehr alt. Und eigentlich wollte sie schon gehen. Aber sie hatte noch eine große Aufgabe zu erfüllen.

Noch nie zuvor war sie geflogen.
Sie ging in das Reisebüro und buchte die Reise. Es kostete viel Geld. Ihre ganzen Ersparnisse für ihre Beerdigung gingen dabei drauf.
Die Pistole lag in der Schublade. Dort lag sie schon viele Jahre. Genauer gesagt schon 15 Jahre. Seit dem Tod ihres Mannes lag sie dort. Und sie hatte sie immer liebevoll geputzt, wie sie immer alles liebevoll geputzt hatte. Nur die Patronen wußte sie nicht einzusetzen.
Sie las die Gebrauchsanweisung. Dazu brauchte sie ihre Lupe. Lesen konnte sie nicht mehr gut.
Es ging einfacher als gedacht. Entsichern. Nein, jetzt noch nicht. Aber Gebrauchsanweisung unbedingt einpacken. So.
Sie packte ihre dicke zerknautschte alte Handtasche. Die mit den Pfefferminzchen darin und dem handgestickten Taschentuch darin.
Hinein kam ihr Paß. Gottseidank war der nicht abgelaufen.
Visum, sie brauchte ein Visum. Die Nachbarin arbeitete beim Amt. Sie würde ihr helfen.

Die nächsten Nächte konnte sie nicht schlafen. Das war aber oft so. Sie nahm zwei ihrer Schlaftabletten. Dann ging es.

Jeden Tag schaute sie in ihre Handtasche. In der Seitentasche verstaute sie die Pistole. Und die Gebrauchsanweisung. Und ihre Herztabletten. Für alle Fälle.

Sie schaute die Nachrichten nun noch aufmerksamer als sonst. Sie würde helfen.

Das Visum. Die Nachbarin wünschte eine gute Reise. Und sie staunte über den Mut der alten Dame, - so weit weg allein.
Nun wurde es ernst.
Das Taxi brachte sie zum Flughafen. Sie war nur etwas nervös. Erstaunlich. Aber sie hatte ihre große Aufgabe zu erfüllen.
Irritiert wegen der Geschäftigkeit, jedoch zielstrebig ging sie zum Schalter und checkte ein. "Gepäck?" fragte die Stewardeß. "Kein Gepäck" antwortete die freundliche Oma. "Kein Gepäck?" fragte die Stewardeß sichtlich erstaunt erneut. "Kein Gepäck", antwortete die lächelnde Oma.
Nachdem sie einen Platz am Fenster -leider nur Raucher - ergattert hatte, setzte sie sich zum Verschnaufen in die Flughafenhalle. Sie beobachtete die anderen Menschen beim einchecken und bei der Sicherheitsschleuse. "Oh, mein Gott, wie soll ich denn da durch kommen?"dachte sie und ihr Herz fing an zu stolpern.
Ganz langsam, mühsam einen Schritt vor den anderen setzend, machte sie sich auf den Weg. Die braune Kunstlederhandtasche fest unter den Arm geklemmt.

Die Sicherheitsbeamten waren gerade sehr intensiv mit dem Handgepäck einer jungen Frau beschäftigt. Die alte Dame preßte die Handtasche fest an sich und atmete tief durch.
Die Sicherheitsbeamten zogen andere Sicherheitsbeamte zu Rate als sie ein unidentifizierbares Objekt bei der jungen Dame im Durchleuchter entdeckten.
Das war ihre Chance. Langsam schlenderte die freundliche alte Oma unauffällig um die Schleuse herum. Die Handtasche immer noch fest an ihrem Körper.
Ihr Herz klopfte zum Zerspringen. "Ruhig", dachte sie, "ganz ruhig". Ein Sicherheitsbeamter drehte seinen Kopf und schaute zur Schleuse. Dienstbeflissen ging er wieder auf seine Position. "Jetzt erwischen sie mich", dachte die alte Dame. Hilflos lächelnd schaute sie den Beamten mit großen Augen an. "Na, junge Frau, sie wollen sicher ein bißchen in die Sonne?" fragte er arglos. "Ja, ja, hmmm", murmelte die alte Dame.
Sie hatte es geschafft. So einfach war das. So einfach. Schlimm. Was da alles passieren konnte.

Nun wartete sie mit den anderen Passagieren im Warteraum. Sie ließ ihr Leben an sich vorbeiziehen. Der zweite Weltkrieg hatte gereicht. Er hatte so viele Menschenleben gekostet. Er hatte so viel Elend gebracht. Auch in ihr Leben.
Es durfte nicht noch einmal geschehen. Diesmal würde es noch viel schlimmer werden. Sie würde es verhindern.

Als sie im Flugzeug saß, staunte sie, wie leicht alles war. Nicht viel schwieriger als Busfahren. Kein Wunder, daß die jungen Leute in der ganzen Welt unterwegs waren.

Angekommen machte sie sich auf den Weg. Das war schwierig. Sie sprach keine fremden Sprachen. Irgendwie schaffte sie es. Sie schaffte alles was sie wollte. Sie war schließlich eine Frau.

Mit ihrem Charme und ihren dicken braunen Stützstrümpfen, dem unauffälligen lindgrünen Kostüm mit der weißen Rüschenblüse aus Polyester darunter schaffte sie es bis ganz nah. So nah. Es war alles so einfach. Sie wartete. Sie wurde langsam müde. Erschöpft.
Dann geschah das Unglaubliche. Der Mann trat aus dem Haus. Nur ganz kurz. Er wollte in das vorgefahrene Auto steigen. Ganz schnell, sie wußte gar nicht, daß sie noch zu so schnellen Reaktionen fähig war, zückte sie die Pistole aus der Tasche. Sie entsicherte - ohne die Gebrauchsanweisung nochmals gelesen zu haben - und schoß.

Es sollte keinen Krieg geben. Sie wollte das nicht. Sie wollte das wirklich nicht. Die Leidtragenden wären wieder in der Hauptsache die Mütter und ihre Kinder.
Er mußte sterben.
Ihr wurde schwindlig. Die Herztabletten. Sie versuchte sie aus der Tasche zu grabbeln. Die Securities. Nebel. Geschrei. Nebel. Helles Licht. Sonne. Gleißendes Licht. Geblendet atmete sie zum letzten Mal tief aus.
Sie hatte die Welt retten wollen.



Ich bin nach einem Telefonat mit meiner 87jährigen Großmutter darauf gekommen, dies zu schreiben.