Bettina Vetter Der Sprößling Die Erzählerin: Ich bin schon uralt, von der Zeit gezeichnet, doch der Natur sei Dank, meine Sprösslinge sind schon fast so groß wie ich, gesund und kräftig. Und doch, ich höre nie auf, mir um sie Sorgen zu machen. Es könnte sein, dass sie vor mir dran sind, diese Welt zu verlassen. Es war nicht immer so. Die Geschichte beginnt. Vor kurzem lebte meine direkte Nachbarin noch. Ich wollte nicht lauschen, aber wie es nun mal so ist, man hört es halt doch. Ich schicke das Gespräch mit ihrem Sprössling zu euch, damit es nie verloren geht, damit wir alle noch eine Chance haben: - Sprössling! Wach auf! Das Frühjahr naht! - Mammmaa, ich bin soo müüde! Was soll ich tun? - Strecke deine Arme aus, nach unten und nach oben! Trinke und atme, damit du groß und stark wirst. Richte dich zur Sonne aus! - Mama, es stinkt! Ist das immer so? - Ja Sprössling. Es ist unsere Aufgabe, zu reinigen. Trinke! - Ist es so richtig? Aber das Wasser schmeckt nicht besonders. Warum nicht? - Erkläre ich dir, wenn du goss bist. Sei still und tu was ich sage! Die Erzählerin: Ihr Sprössling war gehorsam. Er wuchs und er entfaltete sich den Umständen entsprechend gut. Es ging auf den Sommer zu. - Mammaa!! Ich habe Durst! - Streck deine Arme tiefer nach unten aus! Dort ist noch Wasser! Bald kommt Regen! - Mama, warum stinkt es immer noch so? Ich habe mich doch bemüht! - Wenn du groß bist, dann erzähle ich es dir. Mach dir keine Sorgen, ich pass auf dich auf. - Mammaa, warum ächzt du so? - Ach Sprössling, ich bin zu alt, um mit der Luft und dem Wasser klar zu kommen. Eine Krankheit sucht mich heim. - Kann ich dir helfen? Mamaa, du musst mir doch noch alles erzählen! - Helfen? Nein, das macht die Natur. Erzählen? Ich glaube bald ist es soweit. - Was für eine Krankheit? - Meine Haut pellt sich, sie reißt und juckt, als wären tausend Nadeln in ihr! Bald bin ich ohne Schutz! - Mama, ich strecke die unteren Arme aus, um dich zu halten! - Danke dir, Sprössling! Ich liebe dich. - Ich liebe dich auch, Mama. Erzählerin: Meine Nachbarin litt fürchterlich. Und doch munterte sie ihren Sprössling immer wieder auf. Es kam die Zeit des Wechsels - so nennen wir es. Wir hofften alle, dass sie danach gesund sein würde. Aber es kam anders! - Mama! Ich habe keine Lust mehr zu atmen und zu trinken! Ich bin wieder so müde. Was soll ich tun? - Keine Sorge, Sprössling - wir werden bald schlafen. Lass dein Haarkleid fallen! - Aber Mama! Dann höre ich doch auf zu wachsen?! Und außerdem stinkt es immer noch! Sagst du mir jetzt, warum? - (stöhn) Die Vierarmigen tun das, warum weiß ich auch nicht. Und wie kann ich dir auch nicht erklären. Wir sind zu wenige, um das zu verhindern. - Mammaaa! Hast du das gehört? Sind das diese, die nur vier Arme haben? - Ja, sie suchen diejenigen von uns, die sie brauchen. - Dann sag ich ihnen jetzt, dass sie aufhören sollen, die Luft so schlecht zu machen! - Sprössling, bring mich nicht zum Lachen! Mir tut alles weh. Sie werden dich nicht hören. Das konnten sie noch nie. - Maammmmmmaa! Es ist so laut! - Auuaaaaa! Sprössling, ich muss gehen! - Warum? Mamaaaaa bleib!! Was tun die?? - ... - Mamaaaaaa??????????????? Die Erzählerin: Sie antwortete nicht mehr - wieder ein Baum weniger! Wir haben mehr zu tun und immer mehr und kommen nicht mehr gegen den Gestank an! Viel zu viele sind schon krank und geben doch ihr Bestes. Es wird immer schwieriger, Sprösslinge groß zu ziehen! Wir wissen bis heute nicht, warum um der Natur Willen die Vierarmigen das alles tun! Dieses war nur eine Geschichte, doch der Wind erzählt uns noch viel, viel Schlimmeres! Wohin soll das führen? |
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