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Bettina Vetter

Lisa findet ihre Antwort!


"Lisa, das Essen ist fertig! Kommst du bitte?"

Lisa trottete heran, lustlos und in Gedanken versunken.
"Setz dich endlich hin, das Essen wird kalt. Und ziehe nicht so ein
Gesicht!" sagte ihre Mama schon ein wenig verärgert.
Was die Erwachsenen nur immer haben? Kaum ist man nicht am Lachen und
Toben, maulen sie!
"Was ist denn? Schmeckt es Dir nicht?" fragte ihr Papa.
"Ich denke nach", antwortete Lisa und stocherte in ihrem Gemüse herum.

"Oma- Du bist doch schon so alt! Kannst du mir sagen
was nach dem Tod kommt?"

Oma verzog das Gesicht, als wenn sie auf eine überreife Zitrone gebissen
hätte.
Papa räusperte sich verlegen und Mama stand kurz vor einem Wutausbruch.
"Was habe ich denn getan?" Beleidigt stand Lisa auf und ging nach
draußen in den Garten.
Der Abendtau legte sich schon auf die Blätter der Bäume, aber das war
ihr egal, sie musste Nachdenken.
Am Besten ging das, wenn sie zwischen Salat und Blumen dahinschlenderte.
Sie lauschte auf den Frühlingsgesang der Vögel.
Lisa war schon immer ein neugieriges Kind. Manchmal waren ihre Eltern
geduldig und erklärten alles ganz genau und ein anderes Mal kam ihre
Frage einem Kanonenschlag gleich. So wie vorhin!
"Nach den Sommerferien komme ich ja endlich in die Schule, mal sehen, ob
die mehr Antworten haben!" sagte Lisa laut vor sich hin.
"Wenn es nach dem Tod nichts gibt, warum macht man dann soviel? Ich
würde nur Sachen machen, die mir Spaß machen! Den Himmel, das nehme ich
den Erwachsenen nicht ab! Ist ja fast so wie mit dem Weihnachtsmann und
Osterhasen. Denken wohl ich bin blöd! Da ist Nichts. Höchstens so ’n
Ozonloch, oder wie das heißt! Darüber ist das All und Sterne, habe ich in einem Film
ja schon gesehen! Wenn da die Toten wären, könnte man sie ja sehen.
Aber wo sind sie sonst? Wahrscheinlich wissen das die Erwachsenen auch
nicht. Ich glaube sogar, dass sie deshalb auch so eine Angst haben,
darüber zu sprechen."
Währendessen sie so vor sich hinredete, kam sie an einem ihrer
Lieblingsbäume an und legte sich ins Gras, um durch das frische
Blattwerk in den Himmel zu schauen. Lisa blickte versonnen in die Ferne.
Kleine Tautropfen spiegelten das Licht in tausend Farben. Langsam
bewegten sie sich über die Blätter des Baumes auf Lisa zu.
Einige liefen schon am Baumstamm herunter. "Jetzt fange ich wohl schon
an zu Träumen", murmelte sie und rieb sich ganz kräftig die Augen. Als
die wieder aufblickte, waren die Tautropfen verschwunden.
"Was sagt Mama immer? Meine Phantasie geht mit mir durch. Sie mag wohl
manchmal Recht haben!"
Lisa wollte gerade aufstehen, um ins Haus zurückzugehen, als sie
verzückt aufschrie!
Vor ihr im Gras hatten sich alle Tautropfen gesammelt. Sie schienen das
Sonnenlicht in sich eingesogen zu haben, es war wie ein Glitzern und Funkeln von
tausend Diamanten.
Sie bekam ein komisches Gefühl im Bauch und in ihrem Kopf tobten
plötzlich tausende Fragen und Stimmen: "Wer bist du? Hast du auch eine
Geschichte zu erzählen? Bist du neu?"
Lisa schüttelte sich. "Wer seid ihr? Eigentlich glaube ich nicht mehr an
Märchen!"
Ein ganz besonders großer Tautropfen kam auf Lisa zu und fing an, zu
erzählen.
"Wir sind die Erzähler. Jedenfalls nennen wir uns so. Alles was ein
Mensch in seinem kurzen oder langem Leben sammelt, saugen wir auf und
geben es weiter. Solange bis alle Erzähler die Geschichte kennen. Viele von uns haben
schon ganz viele davon."
"Seid ihr der Tod?" fragte Lisa ängstlich und erstaunt, aber durchaus neugierig.

"Es gibt bei uns keinem Tod. Wir sind da! Ihr werdet geboren und Ihr
könnt auch sterben."
"Weißt du vielleicht, was danach kommt?" Lisa war etwas mulmig zu Mute.
Ob sie wohl eine Antwort bekommen würde?
"Es gibt keine einfache Antwort auf diese Frage. Aber für dich versuche
ich es:
Wenn dein Körper nicht mehr ist, bleibt deine Geschichte übrig! Dein
Erzähler sammelt sie auf und bringt sie weiter, solange bist du neue
Geschichte bist. Dadurch haben wir immer neue Freude!"
"Sind wir dann nach dem Sterben in Euch drin?"
"Man könnte es so sagen, du bist ein Teil von uns, wir nennen euch die
Sammler!"
"Also sind wir im Leben die Sammler und nach dem Tod ein Teil eines
Erzählers." Lisa wurde ganz still, gähnte laut und schlief ein.
Als sie kurze Zeit später wieder erwachte, wurde sie über sich selbst
ärgerlich. " Endlich erklärt man mir alles und dann schlafe ich ein!"
Langsam schaute sie sich um, doch Nirgends war etwas von dem Zauber der
Tautropfen zu sehen.
Es beschlich sie das ungute Gefühl, alles nur geträumt zu haben. "Na,
wenn schon. Auf jeden Fall ist das eine Erklärung, die ich glauben
kann", dachte sie laut.
Sie rannte ins Haus, die Treppe rauf in ihr Zimmer. Dort im Bett,
schön eingemummelt, nahm sie sich vor eine besonders schöne
Geschichte zu sammeln. Auch wenn das manchmal bestimmt nicht einfach
sein würde.
"Gleich morgen werde ich es allen Erwachsenen erzählen. Dann muss keiner
mehr Angst haben vor dem Tod."
Sie dachte an all die Tautropfen, an das schillernde Licht und an die
vielen Geschichten, die sie eines Tages hören würde. Vielleicht nennt man
es deshalb Himmel. So hell und freundlich ist es ein wunderschönes
Wort für den Ort, wo die Erzähler sind.