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Ursula Tallafuß

Verpiss dich, es gibt kein Licht!


Draußen vor dem Fenster steht ein Apfelbaum. Ein reifer Jonathan löst sich und rollt auf die Wiese. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.
Mein Vater ist Alkoholiker.
In der Nähe spielen ein paar Kinder "versteinerte Hexe." Vier von ihnen stehen in skurriler Haltung stumm, zwei flitzen noch vor der Hexe davon.
Meine Großmutter hat meinen Vater versteinert. Für immer.
Mein Vater hat von seinem fünfzehnten Lebensjahr, bis zum Schlaganfall vor zwei Jahren, da war er 52, jeden Tag getrunken. Seine Mutter hat ihm als Junge das Jausenbier eingepackt.
Die Kindheit meines Vaters? Puh, darüber reden habe ich ihn nie gehört. Das war auch gar nicht nötig. Jeder im Ort kannte SIE als die kalte Schlampe die sie war.
Sie hatte im Eltern- Kind Schlafzimmer fremde Männer, von denen einer der Tante Anni mitten in der Nacht ins Gesicht geschlagen hat, weil sie ihn durch ihr Weinen gestört hat. Tante Anni war entsetzt über den Tod ihrer Mutter und erzählt heute noch wie wunderbar sie war.
Mein Vater musste eines Morgens im Bus zuhören, wie zwei Männer auf der Vorderbank sich über seine Mutter unterhielten: "Wenn du was zum F… suchst, geh zur Betti, die lässt jeden."
Der Kommentar seines Vaters dazu:" Wenn ich heimkomme, muss das Loch frei sein."
Das hat er meiner Mutter einmal im Vollrausch erzählt.
Alkohol bekämpft negative Gefühle.
Meine Mutter erwürgt mich, wenn sie das liest. Ich mag meine Mutter und mute ihr und euch das trotzdem zu.
So eine Kindheit ist eine gute Erklärung für einen späteren Alkoholiker.
Meinem Bruder und mir verwährte sie das Mitleid anderer. Das müsst ihr doch verstehen, hieß es von allen Seiten. Sein Geld bringt er doch brav nach Hause. Es gibt schlechtere…
Ich habe viel verstehen müssen, als ich klein war. Warum der Papa nie da ist, und wenn, immer so komisch ist und stinkt, warum die Mama mit mir ihre Probleme besprechen muss, warum die Männer bei uns so aggressiv sind, warum nie Geld im Haus ist…
Alkohol macht mutig.
Ich sehe meinen Bruder und mich ganz klein auf der Strasse sitzen, Pläne schmiedend, wie wir von hier wegkommen.
Mein Bruder wohnt mit meinen Eltern und seiner Familie heute noch im selben Haus. Eine Versöhnung hat nie statt gefunden. Manchmal vermisse ich den gewitzten Bengel von früher. Von dem heute "erwachsenen" Bruder trennen mich Welten. Er hätte eine Therapie gebraucht.
Mir tut es Leid für meinen Vater, dass er kein Leben hatte. Er lag immer auf der Lauer tief unten in der Höhle:
"Licht? So ein Blödsinn! Licht gibt`s nicht".
"Und warum nicht?"
"Weil ich es sage!"
"Könnte es nicht doch irgendwo…?"
"Verpiss dich, es gibt kein Licht!!! Ich bin groß, du bist klein, also habe ich Recht. Verschwind `in dein Zimmer."
"Ja Papa."
Er wird nie erfahren, dass er sich geirrt hat.
Alkoholikerkinder werden in verschiedene Kategorien eingeteilt: Heldenkinder, Sündenböcke, Clowns, verlorene Kinder.
Ich habe mich im verlorenen Kind wieder gefunden.
Dieses Kind wird zum Einzelgänger, fühlt sich minderwertig, ist still und gehorsam. Es ist ein extrem pflegeleichtes Kind, das keine Probleme macht, mit Hang zur gnadenlosen Selbstverurteilung.
War ich. Aber ich hatte meine Katze. Mit dem Kater bin ich über Wiesen gelaufen, habe vor Mauselöchern gesessen, mit ihm geredet. Lange Zeit wollte ich lieber eine Katze sein, als ein Mensch. Wir hatten es auch wirklich lustig! Ich war gut in der Sprache der Tiere. Dass ich meine Ohren anlegen, Pfauchen und immer noch halbwegs gut Miauen kann ist mir geblieben.
Sonst habe ich mich halbwegs ausgesöhnt mit dieser Welt der Zweibeiner.
Meine Mutter war achtzehn, als sie von ihm schwanger wurde. Und wie es sich für eine anständige Christenfamilie gehört, hat sie ihn heiraten müssen.
Ihre Eltern haben unterschrieben, sie selbst war noch zu jung dazu. Wieder eine Rechtfertigung für ein verpfuschtes Leben. Sie, die Co Abhängige, nimmt es mit Humor. Sie hat es immer mit Humor genommen, nicht immer habe ich das verstanden.
Hier die Lieblingswitze meiner Mutter:
Warum säufst denn? Weil ich mich mit meiner Frau gestritten habe! Und warum hast du dich mit deiner Frau gestritten? Na, weil ich sauf!
Was ist der Unterschied zwischen mir und dem Jesuskind? Das Jesuskind hat nur eine Nacht neben dem Esel liegen müssen.
Von außen betrachtet haben wir uns nicht von den anderen unterschieden. Meine Eltern bekleideten diverse Ehrenämter. Mein Bruder und ich waren hübsch angezogen, ordentlich, höflich. Würde ich jetzt die Perspektive wechseln, könnte ich davon erzählen wie nett es Klein Ursi am Land hatte.
Für mich selbst habe ich die Perspektive schon lange gewechselt.
Ich musste dafür viel in Kauf nehmen. Alpträume, gegen die selbst David Lynch ein lieber Märchenonkel ist.
Meinen richtigen Umgang mit Alkohol erlernen.
Doch zu meiner Überraschung habe ich einen Mann gefunden, den ich liebe. Ich war wirklich überrascht, dass ich dazu fähig bin.
Immerhin hat mich der erste Mann in meinem Leben belogen, betrogen, zurückgewiesen.
Die erste Erinnerung meines Lebens zeigt mich allein, ungefähr ein Jahr alt. Weinend in der Nacht, niemand kommt um mich zu holen, ich habe mich übergeben müssen vor lauter Angst, während ich auf den kleinen Lichtstrahl gestarrt habe, der durch das Schlüsselloch aus der Küchentür drang. Meine Mutter hat diese Geschichte bestätigt. Sie war eine Stunde lang gegenüber im Turnsaal.
Die Psychologen nennen das Urmisstrauen.
Ich hatte eine zweijährige Beziehung zu einem Mann, in dem ich das Kasperltheater meiner Eltern wiederholte.
Heute noch erinnere ich mich an den Augenblick, als mir das bewusst wurde. Wir standen gegenüber und stritten uns um Geld. Da war ich neunzehn.
Daraufhin hat sich das Ursi Apferl schleunigst verrollt, ihn habe ich bei meinen Eltern gelassen. Auf nimmer Wiedersehen.
Alkoholiker sind austauschbar, verwechselbar, sie gleichen sich in ihrem grenzenlosen Egoismus wie eine Flasche der anderen.
Alkoholismus ist eine Krankheit.
Für meinen Vater war der Alkohol seine große Leidenschaft. Für nichts in der Welt hätte er aufgehört zu trinken. Der Witz hat ihm gefallen.
Hätt ich das Geld, das ich schon versoffen und verraucht habe!
Da könnt ich saufen und rauchen!
Ich habe mich aus meiner Versteinerung gelöst und muss sie nicht weitergeben. Ich bin frei!
Aber ich muss auf der Hut sein. Ich reflektiere die Erziehung, die ich meinen Kindern zu Teil werden lasse, oft. Stichwort: Lernen am Modell. Ganz schnell geschieht es, dass sich aus lauter Angst, die Fehler seiner Eltern zu wiederholen, andere, nicht minder schlimme Fehler einschleichen.
Das Hirn ist ein Muskel. Es ist in der Lage ein Leben lang neue Neuronenverbindungen zu knüpfen. Lernen bedeutet Veränderung.
Mein Vater liegt heute mit seinen angespitzten Bleistiftbeinchen im Bett und hustet sich wahrscheinlich gerade die Seele aus dem Leib. Die einzige Beschäftigung, die er noch hat.
Trinken kann er nicht mehr. Windeln und Alkohol vertragen sich eben nicht.
Ich trage ihm nichts nach, dafür bin ich einfach zu gerne die, die ich bin.
Nur besuche ich ihn selten. Klein Ursi die Gebetsmühle hat ihm das hundertmal vorhergesagt und versprochen.
Ich halte meine Versprechen für gewöhnlich.
Aber er darf sich zusammenreimen was er will. Wie sehr ich ihn mag, wie schön meine Kindheit doch war. Das gönn ich ihm, weil es mir gut geht und weil er mir egal ist.
Ich hatte mal eine Wette laufen:
Wer stirbt früher, Kater oder Vater.
Ich war sehr traurig, als mein Kater starb.
Der Tag an dem mein Vater stirbt, wird sein wie jeder andere. Möglich, dass ich traurig bin über dieses verschwendete Leben, aber sicher nicht darüber, dass er nicht mehr hier ist.
Im Grunde habe ich nie einen Vater gehabt. Ich verdanke ihm nichts, ich schulde ihm nichts, es schmerzt nicht mehr.
Jetzt gehe ich mir den schönen Apfel holen, wäre doch schade, wenn er einfach so am Boden verfaulen würde.