Ulrike Linnenbrink Tante Emily Ich nannte sie Tante Emily, obwohl sie nicht wirklich meine Tante, nur eine Nachbarin und eine Freundin meiner Mutter war. Emily war nicht einmal ihr richtiger Name. In Wahrheit hieß sie Emilie. Doch nachdem die amerikanischen Soldaten unser Land von Hitler befreit hatten, fand Mutter alles so toll, was aus Amerika kam, dass sie Emilie kurzerhand umgetauft hatte. Ich mochte Tante Emily. Sie brachte mir oft Süßigkeiten oder Kuchen mit, und es roch gut, wenn sie mein Gesicht an ihre Schürze drückte. Als ich noch kleiner war, hat sie auf mich aufgepasst, wenn Mutter anderen Leuten die Wohnung putzte, hat mir aus ihren Büchern mit den schönen Bildern vorgelesen und eine Menge über Pflanzen und Tiere erzählt. Damit kannte sie sich viel besser aus als meine Eltern, denn die interessierten sich nicht für so etwas. Ich aber schon, und Tante Emily hatte immer Zeit für meine Fragen - vielleicht mochte ich sie deshalb so gern. Vielleicht aber auch, weil sie wegen Onkel Gustav immer so traurig war und weil ich Mitleid mit ihr hatte. Oft sah ich sofort, dass sie geweint hatte. Wenn zufällig ich es war, die ihr an besonders schlimmen Kummer-Tagen unsere Tür öffnete, drehte sie schnell den Kopf zur Seite und zupfte sich die Haare vors Gesicht. Sicher glaubte sie, ich merkte es dann nicht, doch ich wusste genau, dass sie das tat, damit ich ihre geschwollenen Augen und die Flecken im Gesicht nicht sah. Ich habe ihren Kummer immer bemerkt. An solchen Tagen beachtete sie mich nicht sehr, aber das nahm ich ihr nicht übel, denn ich wusste ja, dass sie rasch mit Mutter in der Küche verschwinden wollte, damit die ihr half, mit ihren Problemen und den Schmerzen fertig zu werden. Mutter half anderen Leuten gern, und sie konnte es nicht leiden, wenn jemand laut und überheblich war. "Wer anderen von oben herab kommt", sagte Mutter manchmal, "der ist ganz schnell unten durch." In den Sommermonaten, wenn Onkel Gustav mehr mit dem Zug unterwegs war, kam Tante Emily häufiger zu uns herüber. Sonst besuchte sie kaum jemanden. Sie muss sich wohl nicht getraut haben, weil sie ständig diese Flecken im Gesicht oder an den Armen hatte. Doch meine Mutter kannte sie schon seit der Schule. Sie waren lange befreundet, und ihr konnte Tante Emily allen Kummer anvertrauen. Onkel Gustav bekamen wir nur selten zu Gesicht. Nicht nur, weil wir ihn nicht leiden konnten. Nein, im ganzen Dorf redete man schlecht über ihn, und niemand wollte mit ihm etwas zu tun haben. Ständig wollte er über alles Mögliche diskutieren, und dauernd fing er Streit an, wenn jemand anderer Meinung war als er. Außerdem bildete er sich einen Haufen darauf ein, dass er so viel gelesen hatte, und dass er nicht nur Beamter bei der Bahn, sondern auch noch Lokomotivführer war. Im Winter sahen wir Tante Emily seltener. Dann las Onkel Gustav vermutlich alle Zeitungen der Welt, weil er wegen des Winterfahrplans mehr Zeit dazu hatte, und Tante Emily strickte vor ihrem Ofen sicher Berge von Pullovern. Anders konnte ich mir kaum erklären, weshalb die zwei im Frühling ständig neue, wunderhübsch gemusterte Pullover trugen, die es bei uns sonst nirgends zu kaufen gab. Als ich Tante Emily dann mal fragte, ob sie die wirklich selbst stricke und ob sie und Onkel Gustav vielleicht reich seien, weil sie so viel Wolle kaufen könne, hat sie gelacht und gesagt: "Reich? Nein, Hannah, das sind wir nicht. Bevor ich einen neuen Pullover stricke, ziehe ich einen von den alten wieder auf. Man will ja öfter mal was Neues, und dann brauche ich keine neue Wolle zu kaufen." Später hörte ich sie zu Mutter in der Küche sagen, dass Onkel Gustav ihr nie genug Geld gebe, dass sie froh sei ihren Garten zu haben, sonst wüsste sie nicht, wie sie über die Runden kommen solle. Sie habe nicht mal eine Ahnung davon, wie viel er verdiene. Da konnte ich mir vorstellen, dass sie sich tatsächlich keine neue Wolle leisten konnte. Auch in jenem Jahr trieb es alle erst wieder nach draußen, als der Frühling zurückgekommen war. Wie im Jahr zuvor war ich manchmal drüben bei Tante Emily im Garten. Allerdings nur dann, wenn sie allein war, und wenn sie kurz zuvor nicht wieder eines ihrer Probleme mit Mutter besprechen musste, denn dann hatte sie es nicht gern, dass jemand sie besuchte, und die Gartentür war verschlossen. War aber alles in Ordnung, stand das Gartentörchen offen, und ich durfte beim Unkrautzupfen helfen, oder ihr dabei zusehen, wie sie Kohlrabi pflanzte, Möhren und Erbsen säte und zwischen den jungen Salatpflänzchen hackte. Solche Arbeiten machte sie lieber selbst. Ich durfte sie in den Schweinestall begleiten, den man in unserer Siedlung hinter jedem Haus fand. Wenn sie das ausgerupfte Grünzeug in den Trog kippte, quiekte das Schweinchen jedes Mal vor Freude so laut und fürchterlich, dass ich mir die Ohren zuhielt. Es musste vor Freude sein, denn es gab einen Unterschied zu dem Gequieke, das die großen Schweine jedes Jahr veranstalteten, wenn sie vor dem Winter geschlachtet wurden. War Onkel Gustav jedoch zu Hause, traute ich mich nicht hinüber. Vor ihm fürchtete ich mich. Er war so groß und breit wie ein Kleiderschrank, und er roch - besonders am Wochenende - nach Tabak und Bier. Seine Augenbrauen waren über der Nase zusammengewachsen, und mit den kleinen, dunklen Augen darunter sah er mich an wie der Teufel persönlich. Ich fand, die zierliche Tante Emily mit ihrem sanften, hübschen Gesicht und den langen, blonden Haaren war viel zu schön für solch einen schrecklich aussehenden Mann. Auch wenn Mutter mir erzählt hatte, dass Tante Emily Onkel Gustav einmal sehr, sehr gern gehabt hatte, konnte ich das nicht glauben. Ich ging ihm aus dem Weg. Wenn er zu Hause war, verbarg ich mich lieber hinter unserer Hecke und passte auf, dass er ihr nichts tat. Er half Tante Emily nie bei der Arbeit. Oft stand er neben ihr, stemmte die Hände in die Hüften und meckerte an ihr herum. Für den Gartenkram habe sie immer Zeit, aber seine Hemden seien noch immer nicht gebügelt und solche Sachen. Bei schönem Wetter kam es auch vor, dass er im Liegestuhl lag und seine Zeitung las. Weshalb er ihr niemals bei der Arbeit half, habe ich nicht verstanden. Aber wenn er ihr etwas getan hätte, hätte ich schnell meiner Mutter Bescheid gesagt. Später, im Sommer, half ich Tante Emily dabei, Johannisbeeren oder anderes Obst zu pflücken und das Gemüse aus den Beeten zu ernten. Meist durfte ich davon etwas mit nach Hause nehmen. Einen Salatkopf, Tomaten, Kohl oder ein paar Möhren. Mutter freute sich jedes Mal über das frische Gemüse. "So frisch kriegt man's in keinem Laden", sagte sie immer und kaufte Tante Emily zum Dank dafür dann irgendetwas anderes beim Kaufmann Schötger. Lachen sah ich Tante Emily nur, wenn Onkel Gustav nicht bei ihr war. In seiner Gegenwart summte sie nie ein Liedchen vor sich hin - so, wie sie es ohne ihn zuweilen tat. Aber ihre Katze machte sie froh, das spürte ich ganz deutlich. So bald Minka ihr um die Beine strich, nahm Tante Emily sie auf den Arm, drückte ihre Nase ins rote Fell, küsste und streichelte sie. Ich wusste, dass sie Minka sehr lieb hatte, viel lieber als Onkel Gustav - da konnte Mutter sagen, was sie wollte. In diesem Jahr kam es häufiger vor als früher, dass ich die Küche verlassen musste, wenn Tante Emily Mutter besuchte. Ich war zu neugierig, um zu gehorchen und in mein Zimmer zu gehen, blieb im Flur, ganz nahe bei der Küchentür. Von dort aus konnte ich durch das gelb gemusterte Türglas erkennen, wie Mutter Teewasser aufsetzte, wie sie Tante Emily den Arm um die Schulter legte, ihre Hand ergriff, oder wie sich beide Frauen umarmten. Dann hörte ich Tante Emily oft weinen und versuchte zu erlauschen, was beide miteinander sprachen. Ich konnte immer nur Wortfetzen erhaschen, doch häufig war von Onkel Gustav die Rede und davon, dass er Tante Emily wieder einmal verprügelt hatte. Dann bekam ich jedes Mal eine richtige Wut auf ihn. Als Tante Emilys Katze Junge hatte, besuchte ich sie ein paar Mal - auch im Haus, das ich zuvor nur selten betreten hatte. Eigentlich gefiel es mir dort nicht. Es war düster darin, besonders dann, wenn Onkel Gustav zu Hause war, wenn er in der Stube in seinem Lehnstuhl saß, mit seiner Zeitung knisterte und mir aus seinen Teufelsaugen Blicke zuwarf, die mich spüren ließen, dass ich nicht willkommen war. Zu den Kätzchen mussten wir auf den Dachboden. Dorthin kam Onkel Gustav nie mit, da war ich mit Tante Emily allein. Hier oben duftete es nach den Pflaumen vom letzten Herbst, die Tante Emily an langen Schnüren aufgehängt und getrocknet hatte. Davon durfte ich immer naschen und aus dem kleinen Fenster im Giebel hinunter über die Gärten der Siedlung schauen. Von hier oben sahen sie aus wie grün-bunte Gemälde mit wuscheligen Heckenrahmen, die - bis auf unseren Garten nebenan - im Sommer in den herrlichsten Farben blühten. Unser Garten, fand ich, war längst nicht so schön wie Tante Emilys. Bei uns gab es nur Rasen, einen Sandkasten, eine Schaukel und den Stall, in dem bei uns die Gartengeräte und die Fahrräder untergebracht waren. Nur am Haus hatte Mutter ein winziges Blumenbeet angelegt. Für mehr blieb meinen Eltern keine Zeit, hatten sie mir erklärt, weil sich meine Mutter nicht nur um den Haushalt und die Kinder kümmern müsse, sondern an einigen Tagen auch bei anderen Leuten putzen ging. An diesem Tag war für mich der Blick aus dem Fenster nicht so interessant wie sonst. Ich stürmte gleich auf die Kiste zu, in der Minka ihre Jungen säugte. Tante Emily erlaubte, dass ich die Kleinen anfasse, und als ich eines von der Zitze rupfte, fiepte es wie eine kleine Maus. Tante Emily und ich lächelten uns an, und ich erschrak, denn sie hatte vergessen, den dunklen Fleck an ihrer Schläfe vor mir zu verbergen. Der war mir unten im dunklen Flur gar nicht aufgefallen, und einen Moment lang war ich versucht sie zu fragen, wie das geschehen war. Doch dann bewegte sich das Kätzchen in meiner Hand, und ich liebkoste und küsste es auf sein winziges rosa Schnäuzchen, aus dem es ein wenig nach Knoblauch roch. Ich hielt es an meine Wange und fühlte, wie mir das Herz fast überfloss. "Darf ich davon eines haben?" fragte ich Tante Emily. "Aber natürlich Hannah, wenn deine Eltern nichts dagegen haben", meinte sie. "Kannst du mit deinen acht Jahren denn schon ein Kätzchen versorgen?" Ich war ein bisschen beleidigt und fragte sie, ob sie denn nicht mehr wisse, dass ich im nächsten Monat schon neun sein würde, und ich versicherte ihr, dass ich, wenn meine Mutter zum Putzen sei, auch auf meinen kleinen Bruder sehr gut aufpassen könne, da sei Verlass auf mich. Irgendwie hat sie das zum Lachen gebracht, und sie bot mir an, dass ich mir in ein paar Wochen, wenn die Kleinen groß genug seien, eines davon aussuchen und abholen könne. "Natürlich nur, wenn deine Eltern damit einverstanden sind." Doch meine Eltern wollten keine Katze, und so musste ich Tante Emily, wenn auch murrend, gleich am nächsten Tag absagen. Wenig später kam sie zu uns, weinte fürchterlich und erzählte, dass Onkel Gustav alle Katzenbabys in der Regentonne hinterm Haus ersäuft hatte. "Am liebsten hätte er das auch gleich mit Minka gemacht, aber die hat er zum Glück nicht erwischt." Da hätte ich den Kerl umbringen können, so wütend war ich auf ihn. Eines Tages, nachdem mein Vater von der Arbeit heimgekehrt war, gab es einige Aufregung in unserem Haus, und schnell wurde mir klar, dass es dabei um Tante Emily ging. Meine Eltern hatten mich zwar wieder aus der Küche verbannt, doch die Tür war nur angelehnt, und obwohl sie sich bemühten, möglichst leise zu sprechen, konnte ich sie vom Flur aus gut belauschen. Manchmal ging Vater nach der Arbeit noch in den Ratskeller, um ein Bier mit den Kollegen aus der Schreinerei zu trinken. Auch an diesem Tag waren sie dort, und er erzählte meiner Mutter, worüber da geredet worden war. Man habe Tante Emily dabei erwischt, wie sie in Schötgers Laden ein paar Sachen gestohlen habe. "Nutzloses Zeugs, einen Lippenstift, eine Haarbürste, ein Fläschchen Parfum", und er fragte Mutter, wieso Tante Emily eine solche Dummheit nur gemacht haben könne. "Was weiß ich", sagte Mutter. "Vielleicht fehlt ihr so was. Sie muss bei Gustav ja immer haarklein abrechnen." Dann war sie einen Moment still, und ich konnte durch das geriffelte Glas erkennen, wie sie die Schultern hob und wieder sacken ließ. "Ja, aber die kann sich doch jetzt nirgends mehr blicken lassen", sagte Vater. "Hat sie darüber nicht nachgedacht?" Darauf sagte Mutter nichts. Sie drehte sich nur um und ging zum Herd. Dort schnitt sie die vorher schon fertig gepellten Kartoffeln in die Pfanne, und man konnte das Fett zischen hören. Dann kehrte sie zu meinem Vater an den Küchentisch zurück, setzte sich ihm gegenüber und schwieg. Vielleicht hat sie dabei überlegt, ob sie es meinem Vater überhaupt sagen sollte, denn sie hatte Tante Emily eigentlich versprochen, es nicht zu tun. Aber dann machte sie es doch und erzählte ihm, dass Tante Emily von ihrem Mann häufig Schläge bekäme, dass Onkel Gustav sie manchmal zuhause einsperre, und dass er sie einmal sogar die Treppe vom Dachboden herabgestoßen habe, so dass sie an ihren Verletzungen fast gestorben sei. "Letztes Jahr im November, als ich David bekommen habe, und als sie fast gleichzeitig mit mir im Krankenhaus war, erinnerst du dich? Sie hat damals den Leuten erzählt, sie sei die Treppe von selbst heruntergefallen." "Ach!" Da Vater mir den Rücken zukehrte, sah ich nur, wie er nickte und sich Tee eingoss, der bei uns fast immer frisch gebrüht auf dem Tisch stand. "Aber das ist doch kein Zustand, da muss man doch was tun!", hörte ich ihn ausrufen. "Ja, müsste man. Nur was?" Mutter rieb sich die Augen, sah dann aus dem Fenster hinüber zu Tante Emilys Haus, wartete wohl die Antwort meines Vaters ab. Der verrührte aber nur den Zucker in seinem Tee und schwieg eine Zeit. "Am liebsten würde ich mir den Kerl ja mal vorknöpfen", knurrte er schließlich. Aber da protestierte meine Mutter gleich. "Franz, du wirst dich doch nicht mit ihm prügeln wollen. Damit hilfst du Emily nicht, er würde anschließend alles nur umso schlimmer an ihr auslassen." "Quatsch", sagte Vater, und er klang etwas entrüstet. "Man könnte aber doch mal mit ihm reden, meinst du nicht?" "Pah", wehrte Mutter ab, "mit Reden wirst du dem wohl nicht beikommen, der ist so sehr davon überzeugt, ständig im Recht zu sein und als ihr Ehemann mit ihr machen zu können, was er will." Sie schüttelte den Kopf. Dann sprang sie auf, weil es vom Herd her gefährlich zischte und bis zu mir in den Flur hinaus angebrannt roch. "Hm. Was spricht dagegen, den Kerl einfach anzuzeigen?", meinte Vater dann. Sie wedelte mit dem Pfannenheber durch die Luft. "Das macht die Emily nie, das würde ihr absolut gegen den Stolz gehen." "Na, den kann sie nach ihrem Diebstahl jetzt sowieso vergessen", brummte mein Vater. Mutter zuckte die Schultern und wendete hektisch die Kartoffelscheiben in der Pfanne. "Ja, das macht mir auch Sorgen. Damit wird Emily nicht fertig, fürchte ich." Seit diesem Tag sah man Tante Emily noch seltener als zuvor. Auch zu uns kam sie fast drei Monate lang kaum, weil Vater für die Meisterprüfung büffeln musste und deshalb häufiger zu Hause war. Wie ich sie zu meiner Mutter einmal sagen hörte, mochte Tante Emily ihm nicht begegnen, da sie sich auch vor ihm schämte - so wie vor dem ganzen Dorf. Was sie getan hatte, war ihr peinlich, und sie konnte es selbst nicht mehr verstehen. So besuchte Mutter, die es nicht aushalten konnte, die Arme in ihrer Scham und ihrem Elend allein zu lassen, sie ab und zu drüben. Gern machte sie das nicht, weil sie sich im Haus nebenan, in "Gustavs Herrschaftsbereich", wie sie es manchmal nannte, genauso unwohl fühlte wie ich. Mutter kaufte auch für Tante Emily ein, da die sich natürlich nicht mehr zum Schötger traute. Ich glaube, Tante Emily hatte dort für eine Weile sogar Hausverbot. Der Herbst hatte sich seinem Ende zugeneigt, und die Bäume griffen wie verkohlte Finger in den Himmel. Das meiste Gemüse hatte Tante Emily abgeerntet, und frisches Fleisch gab es auch wieder. Das Schlachten erledigte Tante Emily wie jedes Jahr selbst, sie war gelernte Metzgergehilfin. Mutter half ihr auch dieses Mal wieder beim Durchdrehen mit dem Fleischwolf, beim Einkochen und Wursten. Dafür überließ Tante Emily ihr wie immer ein paar Koteletts, ein schönes Bratenstück, Würste und Möppkenbrot, aus Blut gerührte Kugeln mit Speckstückchen und geschrotetem Getreide. Für Möppkenbrot hätte ich sterben können, so köstlich fand ich das. Im Schweinestall war die im Winter übliche Ruhe eingekehrt. Nach dem Schlachten war Tante Emily plötzlich sehr viel häufiger bei uns. Im Dorf tuschelte man schon seit einer Weile nicht mehr über ihren dummen Fehltritt, man war wieder freundlicher zu ihr, und das schien ihr gut zu tun. Jetzt gab es ein neues Gesprächsthema, denn Onkel Gustav war nicht mehr da. Vom einen auf den anderen Tag war er aus Tante Emilys Leben verschwunden. Sie machte nicht den Eindruck, dass sie ihn sehr vermisste. Wäre sie traurig gewesen, hätte ich es bemerkt. Auch im Dorf schien man eher froh, aber alle machten sich Gedanken darüber, wohin er wohl gegangen sein mochte, und man redete eine Zeit lang über ihn. "Endlich ist sie den Kerl los", hörte ich eine Frau einmal sagen, "vielleicht ist er nach Amerika ausgewandert", und die andere Frau lachte und sagte: "Da wird Amerika aber froh sein. Hoffentlich behalten sie ihn dort. Nicht, dass er eines Tages hier wieder auftaucht." Wenn ich Mutter nach Onkel Gustav fragte, seufzte sie nur und sagte: "Ja, wenn man das wüsste, Kind." Und Tante Emily wechselte gleich das Thema, fragte mich, wie es in der Schule ginge und was ich mir zu Weihnachten wünsche - oder so. Ich merkte, es war ihr unangenehm, deshalb fragte ich sie nicht mehr. Tante Emily hatte eine Vermisstenanzeige aufgegeben. Danach hat zuerst der Beckmann, unser Dorfpolizist, sie besucht, dann kamen ein paar Mal fremde Männer zu ihr. Mutter war einmal gerade drüben und erzählte Vater später, dass das auch Polizisten gewesen seien, allerdings ohne Uniform. Sie sprach von einer 'Untersuchung', bei der diese Männer Tante Emily nach allem Möglichen ausfragen mussten. Auch die Leute von der Bahn schickten Tante Emily ein paar Briefe, weil Onkel Gustav ja nicht mehr zur Arbeit kam. Die zeigte sie meiner Mutter, redete mit ihr in unserer Küche darüber und bat sie ihr zu helfen, ein paar Formulare auszufüllen. Kurz danach war beim Fleischer Wichmann neben dem Schötger-Laden die Frau Schubert so krank geworden, dass sie wohl nicht mehr zurückkommen würde. Mutter riet Tante Emily, ihn doch mal zu fragen, ob er ihr die Stelle nicht geben wolle. Er sagte gleich zu, denn sie hatte ja bei ihm gelernt, und er wusste, dass sie gut arbeiten konnte. Die Leute im Dorf machten keinen Bogen um die Fleischerei, nur weil Tante Emily ihnen von da an die Wurst und die Braten verkaufte, und das tat ihr gut. Alles in allem kam sie mir frischer und lustiger vor. Ihre Haut war heil und glatt, keine dunklen Flecken mehr, keine Kratzer oder Verletzungen - nichts. Weihnachten feierte Tante Emily bei uns, und als sie mit Mutter in der Küche beim Spülen waren, sagte Mutter zu ihr: "Wenn du mit deinem Geld aus der Fleischerei nicht zurecht kommst, und wenn die Schreinerei vom Franz weiter gut läuft, müssen wir mal sehen, wie wir dir helfen können. Aber du hast ja noch deinen Garten. Damit kannst du so leicht nicht verhungern." Ich besuchte Tante Emily nun öfter drüben in ihrem Haus. Sie hatte die dunkeln Vorhänge abgenommen, und in der Stube war es hell und freundlich. Nicht nur Tante Emily, auch Minka ging es ohne Onkel Gustav jetzt besser. Sie musste nicht mehr auf den Dachboden. Tante Emily hatte ihr ein neues Katzenkörbchen besorgt und unten in der Wohnstube neben den Ofen gestellt. Die Katze sollte es schön warm haben und immer bei ihr sein. Doch das Körbchen hat Minka nicht interessiert, sie hat sich ihren neuen Platz selbst ausgesucht. Onkel Gustav hätte ihr zwar nie erlaubt, dass sie in seinem Sessel schlief, aber danach fragte ja nun niemand mehr. Einmal - Tante Emily war gerade im Garten und wollte für Mutter ein paar Tulpen pflücken - bin ich nach oben auf den Boden gestiegen, um schnell ein paar von den getrockneten Pflaumen zu naschen. Da fiel mir ein großer Karton in der Ecke auf, und ich war neugierig, schaute hinein. Er war voll mit Onkel Gustavs Sachen. Jacken, Hosen, Hemden und so. Ich fragte mich, weshalb seine Kleider hier oben im Karton waren, wieso er die, als er fort gegangen war, nicht mitgenommen hatte. Und mir kam plötzlich ein schlimmer Gedanke. Vielleicht war er ja gar nicht fort gegangen, vielleicht hatte sie ihn im letzten Jahr, als sie das Schwein ... Aber darüber mochte ich nicht weiter nachdenken. Nur der Appetit auf Fleisch ist mir seitdem vergangen. erschienen im Band "Spinnenküsse": http://www.gipfelbuch-verlag.de http://www.literatur-fast-pur.de http://www.tage-wie-diese.de |
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