Petra Plaum Oma In meiner Erinnerung wirst du immer Mitte 60 sein: dralle Hüften, saubere Schürze, wasserblaue Augen, eine scharfe Nase und ein warmes Lächeln unter brünetten Locken. Du sprachst komisch: deine Kartoffeln hießen Grombiera, zur Tüte sagtest du Gugg und Essenreste gabst du "da Klo 'na". Lange glaubte ich, Klona sei der Name eines Hundes, der sich an unseren abgenagten Hühnerbeinen gütlich tun durfte. Als ich dich fragte, ob ich die Klona mal streicheln dürfe, hast du herzlich gelacht. Viel geredet hast du nicht. Aber lachen, lachen konnten wir immer mit dir. Geboren wurdest du 1909. Vor dir waren schon einige Kinder da und auch du kanntest deine Mutter eigentlich nur mit rundem Leib. Nach dem siebten oder achten Baby fragten deine Eltern einen Arzt, was gegen so viel Fruchtbarkeit auszurichten sei. Der grinste nur und meinte: "Essen Sie einen Apfel anstatt". Äpfel fand dein Papa wohl nicht so prickelnd, denn du bekamst insgesamt 15 Geschwister, von denen elf die Kindheit überlebten. Deine Brüder durften lang zur Schule gehen. Für euch Mädchen, so sagten alle, lohnte sich das Schulgeld nicht. Mädchen heirateten ja doch, auf dem Lande sowieso. Du warst noch fast ein Kind, als deine Lehre begann. Edelsteine hast du poliert und bearbeitet, harte Arbeit war das und sicher nicht dein Traumberuf. Das Wort Traumberuf gab es zu jener Zeit so wenig wie die Pille, Wegwerfwindeln oder Waschmaschinen und Frauen hatten eh keine Zeit zum Träumen. Dann fand dich die Liebe. ER: ein Mann wie ein Berg, dunkel, mit Schnauzbart, der Eisenbahnschienen bog mit seinen bloßen Händen. "Schee war mein Mann", schwärmtest du mit leuchtenden Augen, da war ER schon 40 Jahre tot und du eine alte Dame, die die Namen ihrer sieben Enkelkinder stets verwechselte. Sie nannten dich eine späte Braut, außerdem trugst du deine erste Tochter bereits unter dem Herzen. Wegen genau dieses Herzens hatte der Arzt dir verboten, ein Kind zu kriegen -- es sei zu sowas viel zu schwach. Deine Tochter bekamst du trotzdem, pünktlich zum 26. Geburtstag, später noch zwei weitere und außerdem einen Sohn. Dein Herz schlug achtundachtzig Jahre und ein halbes. Euer zweites Wunschkind war ein kleiner Junge, Siegfried, der Strahlende. Nur nachts schrie er regelmäßig, und du jammertest: "Könnte ich doch nur einmal wieder durchschlafen!" Kurz später war dein Baby tot, ein Versehen, eine falsche Spritze von einer unaufmerksamen Schwester. Ab da sahst du auf allen Bilder traurig aus. Dein Mann war der Förster dreier Gemeinden. Holz war das Öl von damals, deswegen musste er nicht in den Krieg. Einige Nachbarinnen, deren Männer verändert, krank oder gar nicht wiederkamen, haben dich dafür gehasst. Später zeigten sie deinen Mann an. Natürlich war er in der Partei gewesen, alle Beamten mussten ja dazugehören. Zweieinhalb Jahre saß er im Gefängnis. Eure jüngste Tochter war damals noch ein Baby und erkannte ihren Vater nicht, als er wieder rauskam. Die Amerikaner konnten ihm kein Kriegsverbrechen nachweisen. 1949 -- die Töchter waren 13, 5 und 4 -- brach ER eines Nachts zusammen. Du ranntest zum Dorfarzt, so schnell du konntest. Der folgte dir missmutig, untersuchte deinen Mann und brummelte dann: "Der ist eh schon tot. Und darum wecken Sie mich?" Du warst keine 40, als diese Art von Liebe aus deinem Leben verschwand. Dein Alltag: Überleben. Deine Jobs: Durchwursteln. Dein Herz: gehörte deinen drei Töchtern. Was ein Mensch über Anstand und Verlässlichkeit und Treue und Zusammenhalt lernen kann, lernten sie bei dir. Ich hörte dich nie gegen jemanden schlecht reden, und deine Töchter sagen nur Gutes über dich. Im Gegensatz zu dir schwärmten deine Töchter aus, hinaus in die Welt. Au-Pair-Jahr in England, Reisen nach Rumänien, Tunesien... vor allem die Mittlere erkundete gern andere Kulturen. "Komm doch mit zu Freunden, nach Tunesien", lockte sie dich. Du schautest nur groß: "Was soll ich denn da?" Dreißig, vierzig Kilometer in die Nachbarstädte, das reichte dir vollkommen. Du warst nie eine der "neuen Alten". Als wir kamen, lernten wir eine richtige Oma kennen mit Schürze und winzigen Dauerwellen, in einer Alte-Damen-Wohnung mit dunklen Holzmöbeln und jeder Menge wuchtiger Blumenkissen. Du hattest weniger graue Haare als die meisten Mamas, die ich kannte und eine unglaublich weiße, weiche Haut -- eine Haut, die kaum jemals Sonne abbekommen hatte. Deine Wohnung roch sauber und etwas plüschig-staubig und wenn wir kamen, stets nach gutem Essen. "Ihr seht so spitz aus", meintest du stirnrunzelnd und kämpftest an gegen unser vermeintliches Untergewicht: mit Braten in der besten braunen Soße der Welt. Wenn wir bei dir waren, durch dein kleines Reich tobten und in deinen Armen lagen, war unsere Welt so klein, perfekt und rund wie deine Kartoffelknödel. Zwei Schlaganfälle, Leben im Rollstuhl, Pflege durch deine Töchter, zuletzt auch im Heim: dein Lebenswinter war nicht heiterer als dein Sommer. Jammern hab ich dich nur gehört, wenn dir mal wieder etwas wehtat. Doch du hast auch immer wieder gelacht: über uns, mit uns. Wenn du Geschichten aus deiner Kindheit erzähltest. Dann kam der erste Schlaganfall. Bevor wir dich mit Fragen hätten löchern können, über Politik, Geschichte, Emanzipation und so weiter, zogst du dich in deine eigene Welt zurück. Von da an ging dein Lachen oft einfach so in Weinen über. Als du starbst, waren zwei deiner Töchter bei dir. Es war dir wochenlang schlecht gegangen, und dein Körper war aufgezehrt, hager, verkrampft. Nachdem dein Herz aufhörte, zu schlagen, strecktest du dich, wurdest wieder gerade und fingst an, zu lächeln. Ich möchte so gern daran glauben, dass du deinen Mann und deinen Sohn wieder gefunden hast. In uns lebst du weiter, obwohl ich den Verdacht hege, dass keins von uns Enkelkindern deine Bescheidenheit geerbt hat. Immerhin: wir alle lachen gern und oft -- gerade dann, wenn es uns eigentlich zum Heulen wäre. |
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