Karin Schulze Nur ein Bettler Wie jeden Tag um die Mittagszeit, pünktlich um zwölf Uhr, schellte in der Bäckerei Lehmann die Türglocke. Herein kam ein zerlumpter, auf dem linken Bein hinkender älterer Mann, der einen kleinen, zottiger Pudel auf dem Arm trug. Zielgerichtet und wortlos steuerte er auf einen runden, gedeckten Tisch zu, um daran Platz zu nehmen. Seinen Hund behielt er auf dem Schoß. Er achtete sorgsam darauf, die belegten Brötchen und den dampfenden Kaffee, langsam und mit Bedacht zu vertilgen. Zwischendurch riss er kleine Brötchenstücke ab, um damit seinen Hund zu füttern. Da er immer mit dem Rücken zum Verkaufstresen saß, konnte er nicht sehen, wie der vierundfünfzigjährige Bäckermeister ihn verstohlen, - hinter einem Vorhang verborgen, beobachtete. Jeden Tag schaute Herr Lehmann kurz in den Laden um zu sehen, ob der Bettler zum essen gekommen war. Ohne sich jemals um den alten Mann persönlich zu kümmern, gab er seiner Bedienung Anweisung, täglich den Tisch mit frischen Speisen zu decken. "Armes Schwein", dachte er bei sich, "der hat sicher auch schon bessere Zeiten erlebt, zumal er fast mein Alter hat. Wenn der sich mal waschen würde und seine zotteligen Haare schneiden ließe, sähe er ganz manierlich aus! Ich möchte mal wissen, welches Unglück den armen Kerl so aus der Bahn geworfen hat, das er auf der Straße gelandet ist. Ob er außer seinem Hund noch jemanden hat, der zu ihm gehört? Ich würde ja gern einmal mit ihm reden, aber was würden meine Kunden dann von mir denken?" Seufzend zog sich der Bäckermeister zurück: "Vielleicht spreche ich ihn Morgen an", nahm er sich jeden Tag vor, um es dann bei seinen heimlichen Beobachtungen zu belassen... Eilig stieg die fünfzigjährige Frau Schmidt aus dem Bus. Sie musste sich mächtig beeilen, um die Anschlussbahn noch zu bekommen. Schnell lief sie über den großen Platz in Richtung der U-Bahn. Ärgerlich heftete sich ihr abgehetzter Blick auf einen Bettler, der vor einer Bäckerei nahe des U-Bahneinganges, auf dem kalten Fußboden saß. Er hielt einen kleinen weißen, zottigen Pudel auf dem Arm und schaute unentwegt auf einen imaginären Punkt. "So ein Pack" schimpfte Frau Schmidt innerlich vor sich hin, während sie schnellen Schrittes auf den U-Bahntunnel zusteuerte. "Dieser Penner lungert hier rum, bettelt den ganzen Tag und verdient damit am Ende noch mehr Geld als ich," fluchte sie lautlos. "Unsereins hetzt jeden Tag in aller Frühe los und macht sich für paar Mark krumm. Wieso kann der nicht arbeiten, so wie ich? ...und wenn er nur den U-Bahnhof fegt! Schließlich putze ich ja auch den Dreck anderer Leute weg." Sie wollte sich einfach nicht beruhigen. "Aber dazu sind diese abgetakelten Brüder zu faul. Wozu auch? Kriegt ja genug Geld vom Staat! Als sie die Treppen hinunterhastete, warf sie einen letzten, abfälligen Blick auf die frierende Gestalt. "Wie der aussieht. Alles so ungepflegt an ihm, dabei hat sein abgewetzter Anzug bestimmt mal viel Geld gekostet! Sieht man doch auf den ersten Blick." Über ihr Gesicht huschte ein abfälliges Lächeln. "Vielleicht hat seine Frau ihn auch einfach vor die Tür gesetzt, weil sie die Faxen Dicke mit ihm hatte?. Den armen Hund gleich mit dazu. Das müsste mein Mann sein! Dem hätte ich schon gezeigt wie Arbeit aussieht! Den Hund hätte ich ihm auch schon lange weggenommen. Das arme Tier." Frau Schmidt hatte den Bettler längst vergessen, als sie in ihre Anschlussbahn stieg um dann den ganzen Tag über, in einem Toilettenhäuschen am Hermannplatz zu arbeiten. Seit nunmehr zwei Monaten fuhr Peter Voß täglich zum elterlichen Anwesen um zu schauen, ob sein Vater wieder zu Hause sei. Allmählich begann er sich Sorgen zu machen. Obwohl Wilhelm Voß seinem Sohn eine Nachricht hinterlassen hatte, dass er für längere Zeit verreisen wird, fing dieser dennoch an, unruhig zu werden. Es sah seinem Vater so gar nicht ähnlich, einfach zu verschwinden und ihm die Firma mit allen Vollmachten zu hinterlassen. Obgleich Wilhelm immer gesagt hat, dass er sich mit fünfzig zurückziehen will, um dann seinem Sohn das Geschäft zu überlassen, würde er niemals still und heimlich seinen florierenden Autohandel aufgeben und einfach verschwinden. Dazu hatte er zu hart gearbeitet. Peter wusste auch schon nicht mehr, was er den Angestellten sagen sollte. Wenn sein Vater sich doch wenigstens beim Firmenanwalt, Dr. Wolff, melden würde. Seit dem Tod der Mutter vor drei Monaten, rief Herr Wolff fast wöchentlich in der Firma an, wann er endlich das Testament eröffnen könne. Immerhin war seine Mutter zur Hälfte Teilhaberin des Unternehmens. - Und wovon lebte sein Vater? Von den Konten ging kein Geld ab. Peter kam langsam zu der Überzeugung, dass seinem Vater etwas zugestoßen sei. Er beschloss noch eine Woche zu warten und dann mit Hilfe der Polizei, seinen Vater und Bobby, den Pudel seiner Mutter, zu suchen. An einem regnerischen, kalten Herbsttag, blieb der leere, traurige Blick von Wilhelm Voß, der wiederum am U-Bahneingang saß, an einem Plakat auf einer Werbetrommel hängen. Es zeigte ein älteres Ehepaar, welches lächelnd in die Sonne schaute und für Schmerztabletten Reklame machte. Wehmütig dachte er an seine verstorbene Frau Inge, die ihn vor drei Monaten verlassen hatte. Wie gern würde er die Uhren zurückdrehen und die letzten Jahre noch einmal mit ihr gemeinsam erleben. Aber ihm waren seine Arbeit, die Firma und die Angestellten immer wichtiger als seine Frau und sein Sohn gewesen. Fluchtartig hatte er nach der Trauerfeier, von Schuldgefühlen geplagt, Bobby, den Pudel seiner Frau, ergriffen und sich in den erst besten Zug gesetzt. Ihm war egal wohin er fuhr. Einfach nur weg! So kam er nach Berlin. Obwohl er sich ein Hotelzimmer im besten Haus hätte leisten können, suchte er sich Anfang Juni einen Schlafplatz auf dem Alexanderplatz - unterhalb der weitausladenden Blumenrabatten am Fuße des Fernsehturmes. Hier verbrachte er seine Tage bettelnd und trauernd. Er wusch sich nicht, wechselte nicht die Kleidung. Nur langsam löste sich das Metallband der Trauer von seiner Brust. Es war Zeit nach Hause zu fahren. Morgen würde er seinen Sohn anrufen und ihm sagen, dass er ihn abholen soll. Er wollte ihm die Firma übergeben und sich aus dem Arbeitsleben zurückziehen. Während seiner Treberzeit hatte er einen jungen, obdachlosen Medizinstudenten kennen gelernt, dem das Schicksal übel mitgespielt hatte. Wilhelm hatte ihm Hilfe angeboten, die der junge Mann dankbar entgegennahm. Gemeinsam wollten sie nach Indien ausreisen und den bettelnden Menschen in Kalkutta so etwas wie ein Zuhause bieten, indem sie ein Obdachlosenheim gründen wollten. |
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