Karin Schulze Zeitungsinserat mit Folgen 1988 hatte es der Monat April in sich. Er weigerte sich standhaft endlich den langen, trüben Winter aus seinen feuchten, kalten Klauen zu entlassen. Pia schaute aus dem großen Fenster und zog fröstelnd die Schultern zusammen. Es regnete und stürmte. Ihre Stimmung hatte sich dem launenhaften Wetter angepasst. Ungeduldig schaute sie auf ihre kleine, zierliche Armbanduhr. Noch zwanzig Minuten, dann war endlich Feierabend. Fahrig wischte sie sich ihr halblanges, blondes Haar aus dem Gesicht. "Wird das wieder knapp", dachte sie bei sich. Ihre beiden Kinder würden schon ungeduldig bei der Tagesmutter auf sie warten. Ihre blauen Augen verdunkelten sich. Pia hatte ständig ein schlechtes Gewissen ihren Kindern gegenüber. Sie hatte den Job als Krankenhausbibliothekarin vor drei Jahren, gleich nach ihrer Scheidung, angenommen. Mit 31 Jahren und zwei kleinen Kindern, war sie froh, wieder in ihrem erlernten Beruf arbeiten zu können. Obwohl ihr geschiedener Ehemann seinen Unterhaltszahlungen für Johanna, der 8jährigen Tochter, sowie für den 5jährigen Tom nachkam, war sie gezwungen, Geld dazuzuverdienen. Aufatmend verfolgte sie den letzten Leser, der soeben zur Ausgangstür ging. Rasch griff sie nach ihrem ledernen Rucksack, winkte einen flüchtigen Abschiedsgruß zu ihrer Kollegin und verließ mit schnellen Schritten den Lesesaal. Wie jeden Abend warf sie beim Verlassen der Bibliothek noch einen Blick in das spiegelnde Glas der weit ausladenden Schaufensterscheiben. Sie war müde "Hast auch schon mal besser ausgesehen." murmelte sie vor sich hin, um dann mit der Straßenbahn, die gerade um die Ecke bog, mitzulaufen. Beim Laufen schickte sie ein Stoßgebet zum Himmel: "Lieber Gott, lass mich die Bahn schaffen." Am Abend, die Kinder schliefen schon, klingelte das Telefon. Dörte, Pias beste Freundin, war am Apparat. "Stell dir vor Pia, ich habe heute einen dicken Umschlag mit Post erhalten. Nun rate mal, mit welchem Inhalt?" Dörte klang ganz aufgeregt. Bevor Pia antworten konnte, schnatterte sie aufgeregt weiter: "Stell dir vor, die Kontaktanzeigen sind erschienen. Ich bin total happy. Weißt du was, ich komme gleich mal rüber und dann werten wir aus! Lea ist bei meinen Eltern, wir haben also viel Zeit." Noch ehe Pia etwas erwidern konnte war das Gespräch beendet. Dörte lebte als Single in unmittelbarer Nähe von Pia. Im Gegensatz zu Pia, deren Gesicht immer eine abweisende Kühle ausstrahlte, war Dörte der Typ Frau, dem die Männer reihenweise zu Füße lagen. Dörte hasste ihr Dasein als geschiedene Frau. Der Vater ihrer zehnjährigen Tochter Lea, hatte sich gleich nach der Geburt aus dem Staub gemacht und sich nie wieder gemeldet. Ende März 1988, beschloss Dörte, eine Kontaktanzeige aufzugeben. "Weißt du Pia, ich mache jetzt Nägel mit Köpfen. Ich werde eine Heiratsanzeige aufgeben. Ich bin es Leid, immer die falschen Männer abzuschleppen. Eine Anzeige ist da schon besser. Ist so schön anonym. Wir können doch beide eine Anzeige aufgeben. Jetzt bist du schon seit drei Jahren allein. Eine Nonne könnte nicht keuscher leben." Pia weigerte sich standhaft, auch nur einen Gedanken an Kontaktanzeigen zu verschwenden. Sie fühlte sich längst nicht so attraktiv wie Dörte. Wer will schon eine vollschlanke Frau mit zwei Kindern? Natürlich war sie einsam. Kinder sind nun einmal kein Partnerersatz. Es sah ja keiner, wenn sie nachts heimlich in ihr Kissen weinte, weil sie sich wieder nach einem lieben Menschen sehnte. Ihre Scheidung nach nur zwei gemeinsamen Ehejahren, hatte sie bis in ihr Inneres verletzt. Aus Kummer nahm sie langsam aber ständig an Gewicht zu. Pia traute sich einfach nicht, auf Männer zuzugehen. Dabei hatte Dörte ihr schon oft versichert, dass sie das gewisse Etwas hätte, welches Männer an Frauen mögen. Es wurde ein ausgelassener fröhlicher Abend, mit Wein und leiser Musik im Hintergrund. Dörte hatte schon eine Vorauswahl getroffen und sich zwei Haufen mit Briefen und Bildern zurechtgelegt. "Das sind meine Favoriten, und die hier gehen gleich in den Müll." Lachend zog sie einen Brief hervor. Auf dem Umschlag stand ein fettes P. "Der ist für dich!" Pia verschlug es die Sprache. Abwehrend schmiss sie den Brief zu Seite. "Du spinnst doch total. Der Typ hat an dich geschrieben, da werde ich den Teufel tun und darauf antworten!" Dörte ließ nicht locker. Sie redete so lange auf Pia ein, bis sie nachgab. Neugierig geworden öffnete sie den Umschlag. Flüchtig überflog sie das Geschriebene: "...bin neununddreißig, geschieden, Maschinenbauer, kräftige Gestalt. Pia zog eine Grimmasse. "Vergiss es. Ich schreibe doch nicht an deine Männer!" "Mensch Pia, stell dich nicht so an", gab Dörte aufgebracht zurück. "Auf wen wartest du denn noch? Denkst du, es kommt einer an der Tür klingeln? ...Schönen guten Tag, willst du mich heiraten? Du kannst es doch wenigstens versuchen!" Pia gab nach. Außerdem wollte sie endlich ihre Ruhe haben. Sie legte den Brief beiseite. Weit nach Mitternacht ging Dörte nach Hause. Sie hatte sich für mehrere Kandidaten entschieden, die sie nach und nach "testen" wollte. Die Zeit verging. Die Tage wurden wieder länger und somit auch Pias Einsamkeit. Wenngleich sie jetzt wieder viel mit den Kindern draußen unternehmen konnte, war sie an den Abenden allein. Pia hatte den Brief in den Sekretär gelegt und nicht weiter beachtet. Sie nahm ihn in gewissen Abständen raus, legte ihn aber immer wieder weg. Dörte traf sich regelmäßig mit ihren Kontaktanzeigen und hatte keine Zeit für Pia. Mitte Mai fasste Pia sich ein Herz und schrieb doch. "Was habe ich schon zu verlieren, entweder er antwortet oder er lässt es bleiben," machte sie sich selber Mut. Sie hatte absichtlich kein Foto mit in den Brief gelegt. Zwei Wochen später klingelte es an der Wohnungstür. Es war schon nach acht Uhr und Pia war gerade dabei, den Kindern eine Gute-Nacht-Geschichte zu erzählen. Ärgerlich über die Störung ging sie mit dem Buch zur Tür, um zu öffnen. Natürlich waren beide Kinder an ihrer Seite und hingen wie die Kletten an ihrer Mutter. Gespannt blickte Pia in die leuchtend grünen Augen eines kräftigen, gepflegten Mannes Anfang vierzig. Er betrachtete belustigt Pia und ihre beiden Kinder, die wie kleine Hühnerküken unter den Armen ihrer Mutter hervorschauten. Genervt herrschte Pia den Besucher an: "Wer auch immer sie sind, egal was sie verkaufen wollen, ich habe jetzt keine Zeit, ihnen zuzuhören." Schmunzelnd erwiderte der Unbekannte: "Ich verkaufe nichts, würde aber gern mit ihnen reden." Pia wurde aufmerksam. "Haben meine Kinder was angestellt?" Fragend sah sie zu ihren Sprösslingen runter. Der Fremde blickte grinsend auf die Kinder. Tom und Johanna schubsten und bedrängten ihre Mutter. Pia hatte genug. Sie schnappte sich die beiden und klemmte sich jeweils eins unter den rechten und eins unter den linken Arm. Dann schleppte sie die strampelnden Kinder durch den langen Flur. "Was auch immer sie wollen," keuchte sie vor Anstrengung, "gehen sie einfach ins Wohnzimmer! Bevor meine Kinder nicht ihre Geschichte gehört haben, geben sie sowieso keine Ruhe." Sie hörte noch, wie die Wohnungstür zuschnappte. "Auch gut, muss wohl nicht so wichtig gewesen sein." dachte sie und las ihren Kindern die Geschichte bis zum Ende vor. Danach zog sie leise die Tür hinter sich zu, um ins Wohnzimmer zu gehen. Verblüfft stellte sie fest, dass der fremde Mann brav auf dem Sessel saß. Abwartend blieb Pia in der Tür stehen. Er stand auf und kam lächelnd auf sie zu. Sein Blick leuchtete, als er sie betrachtete. Um seine Augen herum hatten sich kleine Lachfältchen gebildet. "Ich heiße Lutz, ich bin die Anzeige." Pia errötete, Ihr wurde siedendheiß. Damit hat sie ja nun gar nicht mehr gerechnet. Peinlich berührt musterte sie ihn aus den Augenwinkeln heraus. Sie hatte sich die Anzeige ganz anders vorgestellt. Der Typ sah ja richtig gut aus. Klar war er kräftig gebaut, aber alles war gut verteilt. Einfach hier so aufzutauchen. Pia war platt, am liebsten hätte sie sich unter der Teppichkante versteckt. Da hatte sie sich ja was schönes eingebrockt. Lutz und Pia verabredeten sich die erste Zeit nur sporadisch. Pia war sich nicht sicher, ob Lutz nur auf ein Abenteuer aus war, oder ob er ernsthafte Absichten hegte. Immerhin wusste sie ja noch aus seinem Brief, dass er erst seit kurzem geschieden war. "Frisch geschiedene Männer machen nur Probleme," dachte Pia "Die wollen doch erst ihre wiedergewonnene Freiheit genießen." Dazu würde sie es nicht kommen lassen. Außerdem waren da noch ihre beiden Kinder. Pia wollte sich erst ganz sicher sein, dass er auch wirklich die gesamte Familie wollte und nicht nur für sich einen Zeitvertreib. Lutz verblüffte sie von Anfang an immer wieder. Er war einer von den Stillen, Bescheidenen, die nie große Worte um die eigene Person machen. Oft fragte Pia sich, wieso ein Mann der in gehobener Position arbeitete -nicht als Maschinenbauer, sondern als Diplom-Ingenieur- dazu ein tadelloses Benehmen hatte und sogar noch gut aussah, gerade sie ausgewählt hatte. Lutz suchte wirklich eine kleine Familie. Er war der geborene Familienmensch. Schließlich war es Lutz, der das letzte Misstrauen, das wie ein Stachel in ihrem Herzen steckte, beseitigte. Den Schlüssel zu Pias Herz besaßen Tom und Johanna. Das wurde ihm bald klar. Natürlich hatte er bemerkt, dass Tom immer dann Bauchschmerzen bekam, wenn er Pia abholen wollte. Johanna konnte grundsätzlich nie einschlafen, wenn sie wusste, dass ihre Mutter ausgehen wollte. An ihrem sechsten Wochenende, sie wollten tanzen gehen, probten die Kinder schliesslich den Aufstand. Tom bummelte beim Abendessen, warf mit den Nudeln um sich und kippte absichtlich seine Milch um. Johanna saß schmollend unter dem Tisch und ließ gar nichts von sich hören. Verzweifelt rannte Pia in ihr Zimmer und warf sich weinend aufs Bett. Sie hatte sich in Lutz verliebt und hatte Angst, dass er mit den Kindern nicht klar kommen würde. Lutz aber setze sich zu Johanna auf den Fußboden und beobachtete sie eine Weile. Dann sagte er verschwörerisch zu ihr: "Weißt du was, ich gehe ja nicht so gern aus, aber eure Mutter will unbedingt tanzen gehen. Dabei bin ich ein miserabler Tänzer. Eigentlich würde ich viel lieber mit euch zusammen Tarzan im Fernsehen anschauen." Sein Blick ging zu Tom, der ihn eindringlich musterte. "Was meint ihr, ob wir eure Mami überreden könnten, mit uns gemeinsam den Film anzusehen?" Mit lautem Gejohle stürmten beide in das Wohnzimmer. Eine Weile später, als Pia nachsehen ging, warum es mit einem Mal so ruhig in der Wohnung war, stellte sie erstaunt fest, dass Lutz mit beiden Kindern auf dem Fußboden saß und fernsah. Sie war abgemeldet. Genau ein Jahr später war Hochzeit. Lutz und Pia sind immer noch verliebt. Zu jedem Hochzeitstag sagt Lutz: "Ich bin froh, dass du an Dörtes Stelle geschrieben hast. Ich würde immer wieder bei dir ohne Anmeldung klingeln." |
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