Brigitte Hieronimus Max´ Geheimnis Vater konnte kaum schreiben. Wird er seinen Brief lesen können? Max steckt die eng beschriebenen Blätter in einen weißen Umschlag und klebt ihn zu. Vater ist tot. Morgen erfolgt die Urnenbestattung. Er lässt den Umschlag auf der Schreibunterlage liegen und erhebt sich. Energisch schiebt er den Stuhl zurück und geht in die Küche, erinnert sich an einen ganz bestimmten Rotwein. Ein 90er Chianti Riserva aus der Toskana. Die Flasche muss im untersten Regal liegen, unter all den anderen angestaubten, die er von seinen Reisen mitbringt. Vorsichtig zieht er sie heraus und wischt die Staubschicht mit dem Ärmel seines Pullovers ab. Während er die Flasche entkorkt, fällt ihm ein, dass er vergessen hat, sein Motorrad zum Winter abzumelden. Er schnuppert am Korken. Einwandfrei. Max nimmt ein Glas vom Küchenbord neben dem Fenster und gießt von dem Rebensaft hinein, dann schwenkt er das Glas und hebt es an seine Nase. Himbeere und Zimt umkreisen seine Sinne wie Planeten. Wenn er die Augen schließt kann er Zypressen sehen, die wie Nonnen am Wegrand miteinander tuscheln. Sommersonne wärmt seine Haut. Im letzten Sommer schien Vater noch gesund zu sein. Max öffnet die Augen, schaut auf rasierte Felder und Krüppelweiden, die im Nachmittagslicht zu erkennen sind. Kalt ist es geworden. Vater hat Kälte gehasst und wollte nicht im Winter sterben. Max wendet den Blick ab, nimmt Glas und Flasche mit ins Wohnzimmer, und stellt beides auf ein Tablett. Vor der Regalwand hockend, sucht er nach Nigel Kennedys Kafka Version, er schiebt die Scheibe in den Player, drückt auf den Knopf und lehnt sich an den Schrank. Der Geigenstrich passt zu dem, was er seinem Vater geschrieben hat. Ohne Ziel und Plan begann er mit Fragen, verharrte in Formulierungen, setzte fort, schrieb sich warm, geradezu flüssig, tauchte in Gefühle und endete wie eine Meereswoge, die nach der Brandung verschäumt. Schon als Kind tat er sich schwer mit dem Schreiben. Dabei wäre er ein gescheiter Kopf, meinten die Lehrer, vielleicht etwas zu schüchtern, wenn er sich mitteilen sollte und zu bockig, wenn er etwas gefragt wurde. Aber insgesamt unauffällig. Was hieß schon unauffällig? In der Schule vielleicht. Sonst war er überall dabei. Meistens wurde er erwischt, wenn seine Freunde irgendeinen Blödsinn anstellten und dann kam er mit gesenktem Kopf nach Hause. Mutter war nie da, um ihn zu beschützen. Sie gehörte nicht zum Stamm der Löwinnen. Er stellt sein Glas ab und entzündet Kerzen, die im Leuchter neben ihm stehen, nimmt einen Schluck des Weins und lässt ihn die Kehle herunter rinnen. Die Dinge des Lebens sind immer auch schlicht, meinte Vater und erzählte von Raubzügen während des Krieges, wie er von den Männern aus seinem Dorf als Spion durch Wälder geschickt und schließlich geschnappt wurde. Eine Woche bei Wasser und Brot eingesperrt zu sein, war nur eine Mutprobe von vielen. Was er aushalten konnte, mutete er auch anderen zu und sah darin nichts Verwerfliches. Mutter erhob keine Einwände. Wenn sie von der Arbeit nach Hause kam, nahm sie Max in die Arme und meinte, so sei Vater nun mal, sie könne da nichts ausrichten, sie hätte ihm aber etwas Schönes mitgebracht und zog ein Lurchi-Heftchen aus dem Kittel hervor. Die Salamander-Heftchen stapelten sich bereits in der Schublade. Wie war er als Kind eigentlich? Eigenbrötlerisch? Introvertiert? Sensibel? Verträumter als andere Jungs auf jeden Fall. Dafür beliebt bei den Mädchen. Die erste, die er mit ins Bett nahm, hat er auch gleich geheiratet. Auf Druck seines Vaters, der plötzlich moralischer als der Papst sein wollte. Die Ehe ging nicht gut. Schade eigentlich. Renate hätte es verdient, einen ordentlichen Ehemann zu bekommen. Er wollte keine Kinder in die Welt zu setzen. Nicht in diese Welt. Jetzt hat sie einen anderen Mann und vier Kinder. Trotzdem ruft sie jedes Jahr um Mitternacht, am ersten Weihnachtstag, an und beginnt nach einer halben Stunde zu heulen. Eigentlich haben sie sich über alles geliebt. Max erhebt sich. Er muss pinkeln. Schimmernd spritzt eine Fontäne gegen den Porzellanrand. Als er den Wasserkran aufdreht, wartet er auf warmes Wasser und wäscht sich die Hände, beugt sein Gesicht hinunter. Nass blickt er sich im Spiegel entgegen. Wasser rinnt wie Tränen an seinen Wangen herunter. Vater hat manchmal geweint. Damals, als Max ihm endlich sagen konnte, wie ungeliebt er sich fühlt, da war er gerade volljährig geworden und hatte ordentlich einen sitzen. Danach war ihm kein Geständnis mehr peinlich. Behutsam trocknet er das Gesicht mit einem Handtuch ab, greift nach der Creme und verteilt sie auf Stirn, Wangen, Kinn und Nase. Auf dem Glasregal greift er nach der Dose aus China, in der er seine Abführpillen aufbewahrt. Soll er eine nehmen? Morgen auf dem Friedhof will er nicht andauernd rennen müssen. Er öffnet den Deckel, nimmt eine heraus, bewahrt sie im Mund auf, geht ins Wohnzimmer hinüber und spült die Kugel mit einem Schluck Wein herunter. Zum Teufel noch mal. Das tat Vater auch immer. Seine Medikamente mit Alkohol hinunter spülen, und danach mit Daumen und Zeigefinger an den Mundwinkeln entlang fahren. Max fühlt sich plötzlich müde, mag aber nicht zu Bett und gießt nach, geht noch einmal ins Bad zurück, um Zähne zu putzen, löscht das Licht. Er wählt eine weitere CD aus, bleibt bei Nigel Kennedy, entscheidet sich für Experience und reguliert die Lautstärke. Da tobt sich der Bogen auf der Violine aus, entlockt ihr Töne, die sie sonst nicht hergäbe. Hin und wieder tänzelt das Ebenmaß der Harmonie durch die Noten, die komponiert wurden, um alles zu geben. Bis zum letzten Atemzug. So wie das Leben. Unbeugsam und unerbittlich. Jubilierend und frohlockend. Aus und Ende. Das Glas ist geleert. Max erhebt sich mühsam. Während er die Kerzen ausbläst, wankt er und fällt stolpernd ins Bett. Der Morgen schaut sich wintergrau um, als Max auf dem Friedhof eintrifft. Mutter wartet schon auf seinen Arm und wird von Leo, seinem Bruder gestützt. Über den Kopf der Mutter hinweg schaut er Leo an, und entdeckt rotunterlaufene Augen. ”Wo bleibt unsere Schwester?”, fragt Max. ”Du kennst sie ja, sie kauft Rosen für Papa, weil sie keine Kränze mag!”, klärt Mutter auf. Gleichzeitig mit ihrer Gestalt, taucht der Pastor auf. Eilig kommt sie auf Max zu und hakt sich ein. Feierlich schreitet der Pastor die Wege ab und hält die Urne wie eine Monstranz. Vater ist der Erste auf dem Friedhof. Drittes Feld, zweite Reihe von oben, das fünfte von links. Eichen weisen stumm auf den Weg dorthin. ”Warum ist ein Urnengrab bloß so klein? Warum so wenig Mensch im Gefäß?”, flüstert Magda und wendet sich an Leo, der seine Schultern zuckt. Plötzlich kommt starker Wind auf. Dürre Äste fallen herab. Max zieht seinen Mantel fester an seinen Körper und schaut zu seiner Schwester hinüber, die am anderen Ende des Grabes steht und in den Himmel starrt, als ob sie nach etwas suche. Ihre Hände halten sich an den Rosen fest, bis die Zeremonie vorüber ist. Mutter tritt als erste vor. Gefasst nimmt sie eine Schaufel mit Erde und schüttet davon auf die Urne. Trippelnd geht sie an ihren Platz zurück. Leo geleitet Magda ans Grab. Sie zögert. Dann wirft sie jede Rose einzeln in das ausgehobene Loch. Vorher hat sie alle Dornen entfernt. Wie ein Kind sucht sie Schutz in den Armen ihres Bruders. Als sie das Gesicht hebt, beobachtet sie, wie Max in seine Manteltasche hineingreift, einen Umschlag heraus zieht und neben sie ans Grab tritt. Er haucht einen Kuss darauf, kniet nieder und lässt den Brief wie eine Feder schweben. Die Wolkendecke wird zurück geschlagen, blasse Sonnenstrahlen schieben sich durch das Grau. Für Sekunden hält der Wind den Atem an und lässt dem winterlichen Feuerball Vortritt. Brigitte Hieronimus Schriftstellerin und Autorin Seminarleiterin für Wechseljahre Beratung und Coaching www.brigitte-hieronimus.de |
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