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Brigitte Hieronimus

Steinschnuppen


Herberts Mütze sitzt schief auf dem Kopf. Damit sieht er aus wie seine Mutter. Er weiß das, aber sagen darf es ihm niemand. Dann ist er beleidigt. Ohnehin behauptet das nur Jutta.
Er bückt sich ein wenig steif nach einem kreisrunden korallenroten Stein und reibt ihn behutsam trocken. Jutta ist im Haus geblieben und schreibt Karten. Herbert hat das nie getan. Diese unnötigen Mitteilungen, wie gut oder wie schlecht das Wetter an der Nordseeküste sei, dass man mit dem Kutter zum Krabbenpulen fahren und auf jeden Fall besonders schöne Muscheln sammeln wird, die dann doch vergessen auf der Fensterbank zurückbleiben.
Hier gibt es keine Muscheln. Hier gibt es nur Steine, die das Meer glatt geschliffen hat, bevor sie aufgereiht auf einem nahezu unberührten Strand abgelegt werden.
Die Menschen, die heute Morgen unterwegs sind, bücken sich nicht nach Steinen. Mit vermummten Gesichtern stemmen sie sich gegen den einsetzenden Wind und scheuchen ihre Hunde durchs Wasser. Herbert mag keine Hunde.
Ein meergrün gesprenkelter Stein fällt ihm ins Auge. Er befreit ihn von groben Sandkörnern und steckt ihn zusammen mit dem roten in die Jackentasche, dabei gefallen ihm eigentlich keine grünmelierten Dinge. Das Bücken fällt ihm schwerer als gestern. Wehmütig erinnern die Knochen an sein Älterwerden.
Ein Hund springt nass und Kälte verbreitend auf ihn zu. Er weicht aus, ist erleichtert, als sein Besitzer das Tier zurückpfeift. Mutters Hund hat ihn einmal gebissen. Während er unter dem Tisch Wäscheklammern sortierte und sie wie Soldaten aufstellte, kam der Terrier auf ihn zugeschossen und schnappte nach seiner Hand. Ohne Zögern zog Mutter den Holzpantoffel aus und schlug auf den Hund ein, der sich jaulend davonmachte. Unsanft setzte sie Herbert danach auf die Holzspüle und verband ihm die Hand. Blut tropfte in das Emaillebecken und hinterließ tiefrote bis blassrosa Wölkchen. Die ganze Zeit sprach Mutter kein Wort. Überhaupt sprach sie wenig mit ihm.
Herbert kennt sie fast nur am Küchentisch sitzend. Mit der linken Hand fasste sie sich an die Stirn und stützte sich mit dem Ellenbogen ab. Mit der anderen strich sie die gewachste Tischdecke mit dem Rosenmuster glatt. Immer und immer wieder. Er durfte sie dann weder fragen noch sonst irgendwie stören und suchte Zuflucht unter dem Tisch.
Es wird kälter am Strand. Seine melierte Mütze tiefer in die Stirn ziehend, stellt Herbert sich vor, wie der Himmel aus dem Wattebeutel gezogen wird und das Meer auf ihn zuwallt. Beinahe hat er das Gefühl, auf den Schaumkronen davon reiten zu können, und bleibt stehen.
Ein einziges Mal war er mit Mutter hier. Da war er zehn und Großvater gerade gestorben, der vor dem Krieg nach Hvide Sande gezogen war. Zwischen Dünen und Heidekraut eingebettet lag Großvaters Haus, in dem die Sippe wartete. Mutter schien Angst zu haben. Das merkte er daran, dass sie andauernd aufs Klo rannte, wenn sie eingeklemmt zwischen ihrer nörgelnden Mutter und der verdrießlichen ältesten Schwester saß. So wie er als Kind immer aufs Klo musste, wenn er von der Schule nach Hause kam. Selbst wenn nur ein paar Tropfen rannen, er hatte immer das Gefühl sich in die Hose pinkeln zu müssen, sobald Vater das knarrende Hintertörchen zum Garten aufzog und er Mutters anklagende Worte vernahm, die Vater veranlassten, ihn zu bestrafen.
Nach Großvaters Tod durfte er in den Ferien zu diesem reetgedeckten Haus ans Meer fahren. Die jüngste Schwester seiner Mutter, die es erbte, lud ihn dazu ein. Bei ihr aß er mehr als zu Hause und schlief besser. Braungebrannt, mit neuen Sommersprossen im Gesicht und strohblonden Haaren kehrte er am Ende des Sommers zurück. Mutter saß am Küchentisch und stützte seufzend ihren Kopf auf. Ob sie ihn vermisst hatte, erfuhr er nie.
Er wollte ihr ja schreiben. Aber wenn er vor den bunten Karten saß, fiel ihm nichts mehr ein. Oder hätte er schreiben sollen, dass er lieber bei Tante Mette bleiben wolle, dass er mit Onkel Tom um die Wette Stampfkartoffeln mit gebratener Scholle aß und anschließend sogar den Trecker lenken durfte? Oder dass sie nie über den Krieg sprachen, nicht über die Engländer, die mit ihren Besatzungspanzern jede Nacht durch die Stadt gefahren sind und vor denen Mutter Angst hatte, und auch nie über die Russen, die Vater so lange gefangen hielten, obwohl er kein Nazi gewesen war.
Sie stehen immer noch hier, die Mahnmale aus Beton, als die Deutschen dänische Küsten besetzten, um feindliche Schiffe zu beschießen. Herbert erinnert sich an das Foto auf Mutters Küchenschrank, wo Vater in Uniform, mit glattgezogenem Scheitel und Erstklässlergesicht auf ihn herunter blickt, und schickt einen Blick zum Bunker und den Emmamöwen hinauf. Schade, dass Vater nie nach Dänemark kam.
Herbert liebt das Wetter, selbst das schlechte. Ob grauverhangen und dauernieselnd oder nebelverwoben und raureifweiß. Fasziniert haben ihn am meisten die Stürme im Herbst, wenn die brüllende See einen Teil der Dünen verschlang und der Meerwind dafür eine eigene Sprache benutzte, die er schon als Kind verstand. Als er über Tante Mettes Schlafzimmer in der weiß getünchten Kammer unter dem Dach schlief, die rot karierte Bettdecke bis über beide Ohren gezogen, hingerissen dem Stöhnen und Ächzen lauschte, dachte er sich immer Piraten- und Räubergeschichten aus, wo ihn eine schöne Prinzessin küssen und heiraten würde. Er glaubte, dass er dann lächeln würde wie Onkel Tom, der Tante Mette nach einer stürmischen Nacht früh morgens in der Küche Spiegeleier braten sah.
Herbert denkt gerne an diese Zeit zurück und bückt sich, inzwischen beweglicher geworden, nach einem kalkweißen flachen Stein und lässt ihn über die Wellen glitschen, nimmt einen neuen, wirft ihn diesmal weiter ins Wasser hinein und zählt. Sechsmal. Nicht schlecht.
Jutta durfte sich bei jedem Hüpfer was wünschen. Steinschnuppen hat sie das genannt und ihn genauso oft geküsst. Das hat sie lange nicht mehr getan. Aber er hat auch lange keine Steine übers Wasser hüpfen lassen.
Seit fünfundzwanzig Jahren lebt er mit ihr zusammen. Länger als mit Mutter. Nach der standesamtlichen Trauung kam sie auf Jutta zugeschossen und zischte, von jetzt an dürfe sie Herberts Socken selber waschen.
Da wohnte er immer noch bei Mutter. Vater war schon gestorben, und Jutta hauste bei ihren Eltern. Beide studierten, waren auf Bafög angewiesen und sparten sich jeden Pfennig vom Munde ab, um endlich zusammenziehen zu können. Bevor es soweit war, wurde Jutta schwanger. Mutters Interesse beschränkte sich auf ein Paar Wollsöckchen, die sie von ihrer Nachbarin stricken ließ.
Das war im Winter und Mutter trug diese eng am Kopf anliegende Mütze, die immer ein wenig schief saß, weil ihr künstlicher Haardutt darunter verstaut werden musste. Mit ihren Elsternaugen starrte sie auf das blauäugige Baby herunter, als Herbert sie ohne Jutta besuchte. Mutter schüttelte ihren Kopf wie ein Plastikwaldi auf dem Armaturenbrett eines Fords. Hin und her und her und hin. Das sah unglaublich bescheuert aus.
"Und du machst das genau so, wenn dir was nicht passt!", faucht Jutta, wenn Herbert seinen Kopf schüttelt, weil sie sich zu viel Bordeaux einschenkt, sündhaft teure Zigarillos raucht und vergisst, seine Hemden zu bügeln.
Herbert bückt sich flink nach einem neuen Stein. Ohne sie den Strand zu verlassen, bringt er nicht übers Herz. Das Geräusch der Steine, die bei jedem Schritt aneinander klickern wie Murmeln, beruhigt ihn. Jutta wird ihr ironisches Lächeln aufsetzen, wenn sie ihn so beladen ankommen sieht.
Er weiß genau, was sie denkt. Er verabscheute Mutters Opferstockblick, der ihn in Schach hielt. Seit er in die Pubertät gekommen war, Vater seit Kriegsende am Herzen litt, Großmutter im Norden nicht sterben konnte und Mutters Schwestern sich um das Haus stritten, hätte sie ihr Päckchen zu tragen, wiederholte sie ein um das andere Mal. Woraus das Päckchen bestand, fand er nicht heraus und fühlte sich als Kind jedes Mal schuldig.

Genau diesen theatralischen Ausdruck setze er nun immer häufiger ein, um ihr Schuldgefühle zu machen, schrie Jutta, wenn sie genug davon hatte. Mutters schweigsamer Bub, der sich nichts traut, weder ein lautes Wort noch einen Furz loszulassen, schob sie hinterher und knallte mit den Türen.
Schon von weitem sieht er sie. Mit großen Schritten stapft Jutta durch den hellen Sand. Ihr leicht angegrautes Haar weht im Wind und verheddert sich. Als sie Herbert erblickt, winkt sie ihm zu. Dieses freche Lachen, ihre blitzsauberen Zähne, diese Vergissmeinnichtaugen und ihre ungebrochene Lebenslust haben ihn schon immer beeindruckt. Damals, als er sie das erste Mal im Bus sitzen sah, hatte er sich deshalb auch getraut, den freien Platz neben ihr einzunehmen. Jutta schaute ihn unverwandt an, dann auf seine Hände und meinte verschmitzt, an solch unbefleckten Fingern würde sich ein goldener Ring bestimmt gut machen.
"Was ist los mit dir?“, herausfordernd schaut sie ihn an. Salzige Luft brennt in Herberts Augen.
"Nichts ist los. Ich liebe dich nur." Verlegen scharrt er den Sand zu einem ordentlichen Haufen. Übermütig zieht Jutta ihm die Mütze vom Kopf. Seine weißblonden Haare verheddern sich wie ihre eben im Wind.
"Wusstest du, dass ich eine Meerhexe bin und dir fast jeden Wunsch erfüllen kann?"
Grinsend zieht Herbert seine Hände aus den Taschen.
"Dann nimm mir endlich diese Steine ab!"
Juttas Mund nähert sich dem seinen.
"Aber zuerst wirfst du diese dämliche Mütze ins Meer."
Sich von Mutters grünmelierter Mütze zu trennen, fällt plötzlich ganz leicht. Die Möwen stürzen sich darauf und hacken begeistert darauf herum.


Brigitte Hieronimus
Schriftstellerin und Autorin
Seminarleiterin für Wechseljahre
Beratung und Coaching

www.brigitte-hieronimus.de