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Helga Braun

In der Fremde


Stefan steht im Morgengrauen auf dem Schulhof der japanischen Volksschule. Gleich wird der Unterricht beginnen.
Ganz verloren fühlt er sich, obwohl er von etwa zweihundert Mitschülern und Mitschülerinnen umgeben ist.

"Gaijin bakano, Gaijin bakano" dröhnt es ihm im Sprechchor entgegen.

"Fremder Dummkopf", fremder Dummkopf".
Leider versteht er das Geschrei.
Was kann er dafür, dass er eine so helle Haut, einen Lockenkopf und keine Schlitzaugen hat. Er findet Schlitzaugen viel interessanter als seine eigenen runden, und um ihr glattes dickes schwarzes Haar beneidet er die japanischen Kinder geradezu.

Da, viele winzige Steine treffen ihn. Körperlich tut das nicht sehr weh, aber er bekommt Bauchschmerzen, und der Kloß im Hals wird immer größer.
Die Mutter hat es ihm erklärt, warum ihn die Kinder nicht leiden können.


"Wir sind hier im entlegensten Dorf. Die Japaner nennen die Gegend "Inaka - Ödland". Selbst die Erwachsenen haben noch keine Europäer oder Amerikaner gesehen, falls sie nicht aus ihrem Ort fort gekommen sind. Die Kinder haben große Angst vor dir. Sie sehen nämlich viel zu viel fern und kaufen zu viele Comics. Solche Filme und Comics hast du dir selbst schon angeguckt. Du hast bestimmt gemerkt, dass da alle Fremden sehr böse dargestellt sind und dass es ihretwegen immer Mord- und Totschlag und sogar große Kriege gibt."

"Aber ich will doch gar keinen Krieg!"

Mutter hatte ihn fest an sich gedrückt, ihn geküsst und gestreichelt. Ein wenig hatte ihn das getröstet, aber wirklich nur ein ganz kleines bisschen.

Was er nötig braucht, sind Freunde.
Wenigstens einen hat er ja schon. Von ihm hat er es gelernt, Japanisch zu verstehen und zu sprechen. Viel besser, als das Papa oder Mama können.
Jetzt aber wünscht er sich, er würde nicht kapieren, womit die Kinder ihn ärgern: "Gaijin bakano!"
Warum sind sie nicht so freundlich zu ihm wie ihre Eltern? Die streichen ihm über den Kopf, lächeln ihn an, schenken ihm mir nichts dir nichts Saft, Schokolade, Trockenfisch, Reisbällchen oder Kekse.
Aber ist das ein Ersatz für Freunde?
Matsomotokum, der einzige, der regelmäßig mit ihm spielt, gilt bei den anderen als ziemlich blöde. Er bekommt manchmal Krämpfe. Wenn er auf dem Boden liegt, hat er Schaum vor dem Mund. Hinterher weiß er nichts davon.
Die Kinder graulen sich vor ihm. Weil auch mit ihm niemand spielen will, hat er sich zu einem richtigen Bosnickel entwickelt. Selbst bei Stefan ist er launisch. Haut manchmal im spannendsten Moment ab.
Trotzdem, ein Bosnickel ist immer noch besser als gar kein Freund. Stefan hat ihn inzwischen richtig lieb gewonnen. Und blöde ist Matsomotokum wirklich nicht. Sonst hätte er ja Stefan nicht so viel beibringen können.

Ganz öde war es, immer nur mit den eigenen Eltern oder mit Marcus zu spielen. Marcus, den kleinen Bruder, finden sogar die japanischen Kinder niedlich. Vor dem haben sie keine Angst, der ist ja fast noch ein Baby, sieht aus wie eine Puppe.
Dies und noch mehr schießt Stefan durch den Kopf, als der Kreis der Kinder um ihn enger und enger wird.

"Gaijin bakano, Gaijin bakano!"

Seit etwa vierzehn Tagen darf Stefan die japanische Schule besuchen. In der Nacht davor konnte er kaum schlafen. Wie durch Zauberkraft würde sich nun alles zum Guten ändern. Er würde den Kindern schon klarmachen, dass er nicht anders als sie ist, auch wenn er anders aussieht. Vielleicht würden sie sich um seine Bekanntschaft reißen, ihn sogar zu einer ihrer häufigen Parties einladen.

"Gaijin bakano, Gaijin bakano!"

Stefan beißt die Zähne fest zusammen. Nur jetzt nicht losheulen. Gestern hat er dem freundlichen Händler, der ihm immer einen Kaugummi extra bei Kauf dazugibt, einen Lutscher geklaut.
Bald ist er wirklich so böse, wie sie ihn haben wollen.
Bloß weg, bloß weg. Warum hilft ihm denn keiner? Warum muss Papa ausgerechnet im Inaka - im Ödland – eine Baustelle leiten statt in Tokio oder in Osaka, wo man längst an Fremde gewöhnt ist und wo es deutsche Schulen gibt!
Papa arbeitet rund um die Uhr. Er wird ärgerlich, wenn Mama und Stefan ihm den Kopf mit ihren Sorgen heißmachen.
"Ich habe meine Probleme, und ihr habt eure", hat er einmal gesagt. Das vergisst Stefan nicht.
Ich rücke aus nach Deutschland, als blinder Passagier, beschließt Stefan, als der Steinchenhagel endlich nachlässt.

Plötzlich ist die Mutter neben ihm.
Die Kinder hören mit ihrem Gebrüll auf.
"Hab noch ein bisschen Geduld", bittet die Mutter. "Ich habe eben mit dem Rektor gesprochen. Der versteht mein Englisch sehr gut und will dir beistehen. Noch heute will er den Kindern erzählen, dass Vati ihrem Land hilft, weil er an einer modernen Kokerei mitbaut. Vor allem will er ihnen sagen, wie sehr du dir Freunde wünschst!"

Einen Tag später hält sich Stefan wieder auf dem Schulhof auf.
Er ist mit den anderen zum täglichen Turnen angetreten.
Sonst sind sie alle von ihm weggerückt, als ob er die Pest hätte. Jetzt steht er in einer langen Reihe. Sein Nachbar hat ihm nach einer gelungenen Übung anerkennend auf die Schulter geklopft.
Im Musikunterricht hat ihm Takako gezeigt, wie man mit den Kastagnetten umgeht und wie man die Luft durch die Mundharmonika blasen muss, damit aus den Tönen ein Lied wird.
Toll, wie die Musik machen können. Das muss er gleich zu Hause erzählen. Der Unterricht ist wirklich große Klasse, überhaupt die ganze Schule.
Wie gut, dass er so gut Japanisch gelernt hat bei Matsomotokum.

"Morgen gebe ich eine Party", sagt Stefan auf Japanisch. "Wer von euch will kommen?"
"Ich, ich", mindestens ein Dutzend sind es, die ihm antworten.
Hoffentlich macht Mama mit, wenn so viele antanzen, denkt Stefan und rennt so schnell er nur kann über den Berg nach Hause. Die Mappe auf seinem Rücken hüpft auf und nieder.


Eine Party für seine neuen Freunde und Matsomotokum, da muss er tüchtig beim Einkauf und den Vorbereitungen helfen, damit alles klappt.