Helga Braun Baby-san auf dem Land Die Beine sind eingezwängt, aber Baby-san weint so gut wie nie. Ausgestoßen aus dem Mutterleib, darf es rund um die Uhr die Geborgenheit genießen, in der es neun Monate lang aus der befruchteten Eizelle zum lebenden Wesen heranreifte. Kein jäher Wechsel von der Wärme zur Kälte, von den beruhigenden Herztönen der Mutter zum Wiegenlied aus der Konserve. Mama-san hat es schon schwerer und ist so manches mal bis zur Verzweiflung erschöpft. Die Last ist süß, aber sie drückt beim Abwaschen, Aufräumen, Bettenmachen, Putzen, Einkaufen. Kinderwagen sind kaum gebräuchlich. Auf dem Lande, in Kleinstädten und in den Dörfern, wo es an Bürgersteigen mangelt, sind sie beim sehr regen Auto- und Lastwagenverkehr sinnlos. Also werden bei Besorgungen und Besuchen selbst die Zwei- und Dreijährigen noch sicher auf dem mütterlichen Rücken befördert. Abends haben sich die Riemen in die Schultern der Mutter hineingeschnitten, aber Baby-san hat keinen einzigen Laut des Missmuts von sich gegeben. Wegen dieser Nestwärme entstehen so gut wie keine kindlichen Aggressionen in den ersten Lebensjahren. Im Bus, in der Bahn schläft es sich gut am mütterlichen Rücken. Die Flasche wird sofort nach gelegentlichem Aufwachen über die Schulter nach hinten gereicht. Baby-san ist glücklich und genießt sein verlängertes Urvertrauen. Dagegen die ermüdende Trotzphase meiner sehr bald herumkrabbelnden und früh laufenden Söhne, neugierig, unermüdlich unterwegs, um mit allen Sinnen Menschen und Raum um sich zu erkunden. Bereits nach dem ersten Lebensjahr begann die Auflehnung. Wehrten sie sich gegen die zeitweilige Verstoßung, die kurze Absperrung hinter Sicherheitsgittern, die Trennung, wenn ich Arbeiten verrichtete, die gefährlich für sie schienen oder weil ich einmal ungehindert und schnell etwas erledigen wollte? Weiteres heftiges Trotzen ein paar Jahre später. Zuweilen suche ich nach der Schuld, die mich manchmal von ihnen trennt. Rächen sie sich für mein gelegentliches Ruhebedürfnis, meinen Drang, Raum zum Atmen für mich zu behalten, meine Einstellung zur Erziehung? Ungefähr so: Ich darf ihnen nicht sofort jeden Wunsch erfüllen, sie müssen es lernen, Frustrationen zu ertragen, um nicht später an der Härte des Lebens zu zerbrechen. Japanische Mütter verwöhnen ihre Kinder, bis sie in den Kindergarten kommen, erfüllen ihnen in meinen Augen fast jeden Wunsch, lassen sich von den Kleinsten völlig vereinnahmen. Nach einem Jahr Aufenthalt in Japan bin ich nie mehr gewiss, das Richtige zu tun. Meine japanischen Freundinnen sind durch mich ebenso verunsichert: "Wir japanischen Hausfrauen kennen kein Eigenleben, solange die Kinder klein sind. Selbst Besuch von Freundinnen empfinden wir oft als Störung. Unsere Kinder bilden unseren Mittelpunkt, mehr als unsere Männer, die mehr Zeit bei der Arbeit als zu Hause verbringen. Die Kleinen fordern uns ununterbrochen. Du machst es besser als wir, du bewahrst dir deinen Freiraum, deine Kreativität. Wir hingegen sind etwa sieben Jahre unseres Lebens nur Hüterinnen, wenn wir zwei oder drei Kinder aufziehen." "Aber danach seid ihr freier als wir. Eure Kinder bleiben bis zum Nachmittag im Kindergarten. Sie essen und schlafen dort. Eure Grundschulen sind Ganztagsschulen. Nie steht euer Kind nach zwei oder drei Stunden Unterricht unverhofft vor einer geschlossenen Haustür. Und weil bei euch trotz zunehmender Isolierung immer noch die gesamte Gesellschaft miterzieht, weil jeder sich für die kommende Generation verantwortlich fühlt, scheint euren Kindern die Verwöhnung in den ersten Lebensjahren nicht zu schaden. Bei uns sieht fast jedes Elternpaar nur die eigenen Kinder, nur die sind wichtig!" "Wenn unsere Kinder heranwachsen, fordern wir unendlich viel von ihnen. Wir erziehen sie von morgens bis abends und setzen sie unter einen immer stärker werdenden Leistungsdruck. Unsere Selbstmordrate von Kindern und Jugendlichen ist allzu hoch. Ihr lasst euren Kindern Zeit zum unbeschwerten Spiel, zum Müßiggang. Die Zeit unserer Kinder ist eingeteilt. Ihr Stundenplan ist bis zum Abend ausgefüllt mit zusätzlichem Musikunterricht, mit Vorbereitungsschulen auf das Gymnasium und die Universität. Es gibt Mütter unter uns, die dieses System ändern möchten, doch wenn wir unseren Kindern mehr Zeit zum Spielen geben, werden sie von den Fleißigen überflügelt, haben keine berufliche Zukunft. Wir passen uns an, wie sie sich anpassen. Eure Töchter und Söhne werden Individualisten." "Unser Individualismus schließt einen grenzenlosen Egoismus und Narzissmus ein. Ihr bewahrt eure Traditionen. Eure Alten werden nicht mitleidig belächelt oder gar verachtet. Eure Familienbande sind viel stärker, eure Söhne und Töchter hören auf euren Rat, sogar auf die der Großeltern." Baby-san weiß nichts von diesen endlosen liebevollen Diskussionen zwischen deutscher Mutter und japanischen Müttern. Baby-san schläft, träumt und gluckst behaglich in seiner Geborgenheit. Japanische Zufriedenheit in früher Kindheit. Einssein für eine längere Zeitspanne als üblich. Wie lange noch? |
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