Barbara de Raad
Die alte Frau und die Katze
Gerda Stracke war eine Bergmannswitwe.
Sie wohnte neben einer stillgelegten Zeche in einer alten Bergarbeitersiedlung. Die Zeche war schon lange geschlossen und die Häuser der Siedlung so heruntergekommen wie ihre Bewohner.
Wer in die Straße in der Gerda Stracke wohnte hineinging, der meinte eine farbenfrohe, unbeschwerte Welt zu verlassen, und in eine düstere, bedrückende Atmosphäre einzutauchen.
Die sehr kleinen Häuser standen in einer Reihe. Sie hatten mit der Zeit eine schmutziggraue Farbe angenommen, der Verputz war von Rissen durchzogen und blätterte an vielen Stellen ab. An den Rückseiten der Häuser befanden sich die Gärten. Vereinzelt war der Versuch unternommen worden, Gemüse anzupflanzen, es gab ein paar Kaninchen- und Taubenställe, aber in den meisten Fällen war da nur ungepflegte Wiese und Gerümpel.
In dem letzten Haus der Straße wohnte Gerda Stracke. Dahinter lag ein Gebiet, indem ein paar struppige Bäume und Sträucher wuchsen, alter Bauschutt abgeladen worden war und auch sonst alle anderen Arten von Müll, den die Leute im Schutz der Dunkelheit zwischen die Büsche warfen.
Etwas weiter bergab floss ein schmaler, Abwässer führender Bach, der bei schlechtem Wind seinen Gestank über die Siedlung ausbreitete.
Das Haus Gerda Strackes hatte, wie auch die anderen Häuser, keinen Vorgarten, worüber sie froh war. Mit ihren fast siebzig Jahren war ihr der Haushalt und der Garten schon genug Arbeit. Durch ihre korpulente Gestalt fehlte ihr die Beweglichkeit, und in ihrem Alter plagten sie auch hier und da mal gesundheitliche Beschwerden.
Ihre beiden Töchter waren verheiratet und wohnten in einem anderen Stadtteil. Sie kamen nur mehr sehr selten zu Besuch. Ihre Trauer über die Distanziertheit ihrer Töchter hatte sie tief in ihrem Herzen vergraben und dachte nur sehr selten darüber nach. Dann allerdings konnte sie sich nie erklären, ob die Schuld an der Situation bei ihr, in der von ihr praktizierten Erziehung zu suchen sei, oder ob gerade ihre Töchter vom Schicksal so hartherzig geschaffen wurden, dass sie ihre alte Mutter einfach vergaßen.
Doch sie hatte auch keine Probleme, ihre einsamen Tage zu verbringen. Sie schlief jeden Morgen aus, frühstückte ausgiebig und ging dann in einem ganz kleinen Geschäft, dessen Inhaberin fast genauso alt war wie sie selbst, einkaufen.
Dort konnte sie immer ganz herrlich plaudern, und sie freute sich oft, dass es diesen Laden noch gab.
Nach dem Einkaufen setzte sie sich in ihrer Wohnstube an den Couchtisch und las die mitgebrachte Zeitung, von der Titelseite über den Sportteil bis zu den Todesanzeigen. Sie nahm regen Anteil an dem aktuellen Tagesgeschehen.
Die im genauen wöchentlichen Rhythmus gekauften Illustrierten kamen erst nach dem Mittagessen, das sie sich nach wie vor mit Vergnügen in großen Mengen selber kochte, an die Reihe.
Bei schönem Wetter, wenn die Sonne warm genug schien, saß sie am Nachmittag auf ihrer Terrasse und häkelte, strickte oder las.
Den Rasen ihres Gartens mähte der kleine Abduhl. Er wohnte mit seinen Eltern und vier Geschwistern drei Häuser weiter vorne, und er verdiente sich gerne ein kleines Taschengeld.
Für sie war der alte Schiebemäher auch zu schwer, und etwas Luxus konnte sie sich Dank der Rente ihres verstorbenen Mannes durchaus leisten.
Bei schlechtem Wetter schaltete sie schon am Nachmittag den Fernseher ein und sah dann bis zum späten Abend fern. Die Zeit versüßte sie sich mit dem Genuss von Schokolade und manch anderen Schleckereien. So wurde ihr nie langweilig.
Eines abends nun, sie hatte gerade den Rest eines hervorragenden Grünkohleintopfes gegessen uns saß in gespannter Erwartung vor dem Fernseher, da gleich ihr Lieblingskrimi anfangen sollte, hörte sie von der Terrasse ein Geräusch.
Erst nach längerem Hinsehen konnte sie erkennen, was dort saß. Es war eine große, schwarze Katze, die sie mit funkelnden, gelben Augen anstarrte.
Gerda Stracke sah schnell weg. Sie hatte für Tiere nichts übrig, und außerdem war ihr die Katze unheimlich. Da fing auch schon der Krimi an, doch die Handlung konnte sie nicht so fesseln wie sonst. Sie konnte die Katze mit ihren glühenden Augen nicht verdrängen, obwohl sie sich bemühte nicht hinzusehen, und die Katze kein Geräusch von sich gab.
Ein paar Minuten später saß die Katze noch genauso da wie zuvor, doch schienen ihre Augen noch intensiver zu leuchten.
Gerda Stracke konnte den Blick nicht mehr abwenden. Die Augen der Katze schienen ihr sagen zu wollen, die Terrassentüre zu öffnen.
Gerda Stracke zuckte zusammen. So ein Unsinn, dachte sie laut, beschloss dann aber doch hinauszugehen, um sich die Katze einmal genauer anzusehen.
Sobald sie die Terrassentüre geöffnet hatte, spazierte die Katze wie selbstverständlich hinein, sah sich ruhig um und schien zufrieden.
Gerda Stracke wusste nicht was sie tun sollte, die Türe offen lassen oder sie schließen.
Sie sah die Katze an. Die Katze wendete den Kopf: `Du kannst die Türe schließen. Ich bleibe hier,´ schienen ihre Augen zu sagen.
Gerda Stracke schloss die Türe. `Bestimmt hat die Katze Hunger,´ dachte sie. Sie ging in die Küche und holte ein Schälchen mit Milch. Die Katze trank es geräuschlos aus und richtete den Blick wieder auf sie. Gerda Stracke versuchte den Faden des Krimis im Fernsehen wiederzufinden, doch sie spürte den Blick der Katze. Er lenkte sie ab. Sie konnte sich einfach nicht konzentrieren. `Was könnte die Katze denn noch wollen?´ Die Augen der Katze glühten immer heller. `Fleisch, Fleisch, Fleisch!´ Deutlich und laut hörte sie die Worte, obwohl der Fernseher lief. Sie überlegte angestrengt. Sie hatte für morgen zwei Schweinekoteletts gekauft. Die lagen im Kühlschrank. Schnell ging sie in die Küche, öffnete den Kühlschrank und holte ein Kotelett heraus. Aus dem Küchenschrank nahm sie ein Brettchen, aus der Schublade ihr scharfes Messer, und flink schnitt sie das Fleisch in kleine Stückchen.
Auf einem kleinen Teller brachte sie es ins Wohnzimmer, wo die Katze auf dem Sofa saß und zu warten schien.
Vorsichtig stellte sie den Teller auf den Boden. Die Katze reckte sich, machte eine Buckel und kam mit langsamen, fließenden Bewegungen zu ihr. Sie schnupperte erst am Tellerrand, dann am Fleisch. Sie schien unzufrieden.
Na, sagte Gerda Stracke, ist das nichts Gutes? Die Katze sah sie an. Ganz deutlich konnte sie die Geringschätzung in den Augen der Katze lesen. Ich habe nichts anderes, sagte sie zu der Katze und hoffte, dass diese sie verstehen würde. Die Geschäfte haben schon lange geschlossen, aber morgen früh kaufe ich etwas Feines für Dich.
Widerwillig sah die Katze auf den Teller, doch der Hunger schien zu überwiegen. Mit einem missmutigen Ausdruck in den Augen senkte sie ihren Kopf und fraß den Teller leer.
Ohne einen Blick auf Gerda Stracke, ging sie zurück zum Sofa, sprang mit einem elastischen Satz darauf, rollte sich zusammen, schloss die Augen und schlief ein.
Gerda Stracke setzte sich auf den Sessel. Auf ihrem Platz auf dem Sofa, wo das schöne, gehäkelte Sitzkissen lag, da schlief die Katze. Sie konnte ihren Blick nicht von ihr abwenden. Jetzt hatte sie eine Katze, eine große, sehr schöne Katze.
Ein flaues Gefühl beschlich sie. Sie mochte doch gar keine Tiere.
Müde wandte sie ihren Blick wieder dem Fernseher zu. Nein, heute konnte sie dem Programm nicht mehr folgen, und der Krimi war auch längst vorbei. Sie stand auf, schaltete den Fernseher aus, warf einen letzen Blick auf die schlafende Katze und ging mit müden Beinen die Treppe hoch in ihr Schlafzimmer.
Sie überlegte, ob sie sich für morgen besser einen Wecker stellen sollte, um rechtzeitig aufzuwachen. Dann konnte sie gleich gutes Fleisch für die Katze einkaufen.
Am nächsten Morgen, viel früher als sonst, war sie bei dem kleinen Laden. Sie kaufte ein Kilo feinstes Rindfleisch und kam in die peinliche Situation, die Schokolade, die sie für sich gekauft hatte, zurücklegen zu müssen, da sie nicht genug Geld bei sich trug. Auch für Plaudereien fand sie an diesem Tag nicht die nötige Ruhe. Die Katze wartete doch auf sie. Schnell ging sie nach Hause.
Als die Katze das Fleisch sah, strahlten ihre Augen. Gerda Stracke war stolz, das Richtige gekauft zu haben.
Schon zwei Tage später war alles verbraucht, und sie musste erneut gehen frisches Fleisch kaufen. Nach einer Woche stellte sie entsetzt fest, dass sie völlig über ihre Verhältnisse gelebt hatte. Es war erst Mitte des Monats und sie hatte schon fast soviel ausgegeben, wie sonst in einem Ganzen. Fieberhaft kramte sie zwischen ihrer Wäsche. Sie fand nur einen fünfzig Euro Schein. Müde setzte sie sich auf die Bettkante. Alle zwei Tage brauchte sie ein Kilo Rindfleisch für die Katze, unglaublich diese Menge.
Für das Wochenende kaufte sie für sich nur das Allernötigste und ließ die Süßigkeiten ganz weg.
Die Anerkennung in den Augen der Katze, als sie ihr liebevoll gerichtetes Schälchen bekam, ließen sie ihren Verzicht sofort vergessen. Trotzdem beschlich sie gegen Abend wieder der unangenehme Gedanke, dass selbst bei der größtmöglichen Einschränkung ihrerseits, das Futter der Katze kaum zu bezahlen wäre.
In der nächsten Zeit reduzierte sie ihre Ausgaben weiter. Als es Zeit wurde den Rasen zu mähen, schickte sie Abduhl nach Hause und holte selbst den Mäher aus dem Schuppen. Sie brauchte für das kleine Rasenstück den ganzen Nachmittag. Vor Anstrengung, den alten Mäher über den Rasen zu schieben, fühlte sie sich die ganze Zeit einer Ohnmacht nahe. Mehrmals ging sie in die Küche um sich ein Glas Wasser zu holen.
Die Katze lag währenddessen auf der alten Holzbank, die auf der Terrasse stand, und sah mit einem unergründlichen Ausdruck in ihren gelben Augen zu ihr herüber.
Die bequemen, gemütlichen Tage waren überhaupt vorbei. Sie würde anfangen müssen ihre Röcke enger zu nähen, denn sie hatte sehr stark abgenommen. Selbst ihre Freundin, die Besitzerin des kleinen Lebensmittelladens, hatte sie schon einige Male darauf angesprochen, und so versucht ein Gespräch anzuknüpfen. Sie konnte einfach nicht einsehen, dass es jetzt andere Inhalte in Gerda Strackes Leben gab.
Gerda Stracke nahm in Zukunft den längeren Weg zum Supermarkt in Kauf. Das Fleisch war dort billiger, und sie ging so den zeitraubenden Fragen aus dem Weg.
Abends, nachdem die Katze ihre Abendmahlzeit bekommen hatte, sah sie wie früher fern, doch besaß sie nicht mehr die gleiche Ausdauer. Sie war jetzt schneller erschöpft.
Die Katze war lieb und anschmiegsam, jedoch verlor sie nie die Aura von Arroganz und Eigenständigkeit, die sie umgab.
In der folgenden Zeit half ihr der eisern gehütete Notgroschen, ihr Banksparbuch, die Mehrausgaben zu überbrücken. Doch als dieses Geld verbraucht war überwand Gerda Stracke ihren Stolz und schrieb ihren beiden Töchtern einen Brief mit der Bitte um Hilfe. Ihr Telefon war schon lange aufgrund der nötigen Einsparungen abbestellt.
Beide Töchter kamen in der folgenden Woche. Jede gab ihr fünfzig Euro und sparte nicht mit Ermahnungen. Ihr Aussehen wäre undiskutabel. Sie sei kaum wiederzuerkennen. Völlig abgemagert und schlecht gekleidet. Wenn sie jetzt auch noch Schwierigkeiten hätte mit ihrem Geld auszukommen, müsse sie wohl in ein Altenheim.
Gerda Stracke war tief gekränkt. Das Altenheim hätte eine Trennung von ihrer Katze bedeutet. Undenkbar! Völlig verzweifelt beschloss sie, keinen Kontakt zu ihren Töchtern mehr aufzunehmen. Von sich aus würde keine von Beiden etwas von sich hören lassen.
Hundert Euro, ihr letztes Geld und noch drei Wochen bis die nächste Rentenzahlung kam. Sie würde sich kaum etwas zu essen kaufen können. Der Katze durfte es einfach an Nichts fehlen.
Am Ende des Monats war sie nur mehr ein Schatten ihrer selbst. Wer sie lange nicht gesehen hatte, erkannte sie nicht mehr. Aber ihre Katze hatte auf keines ihrer Lieblingsgerichte verzichten müssen. Wie sie das geschafft hatte, konnte sie sich selbst nicht erklären, aber sie war sehr stolz auf ihre Leistung.
Ihr früheres Leben lag in weiter Ferne. Nie dachte sie daran zurück. Viel zu erfüllt war sie von ihrer Pflicht, bestmöglich für ihre Katze zu sorgen. Der Dank und die Anerkennung in den Augen der Katze erfüllte sie mit einem ungeheueren Glücksgefühl.
Sie war nun auch an manchen Tagen viel zu geschwächt, sich morgens anzuziehen. An solchen Tagen ging sie nur in die Küche, um das Futter und die Milch für die Katze zu richten. Oft fehlte ihr dann die Kraft, sich selbst einen Teller Essen zu kochen, aber abends rechnete sie sich zufrieden aus, wie viel Geld sie dadurch eingespart hatte.
Nach einiger Zeit stand sie nur mehr dann auf und zog sich an, wenn das Fleisch und die Milch für die Katze aufgebraucht war. Mit letzter Kraft schleppte sie die schweren Tüten den weiten Weg vom Supermarkt nach Hause.
Wenn sich einer der Nachbarn über ihr schlechtes Aussehen wunderte, merkte man es nicht. Niemand sprach sie jemals an. Ihr Garten verwilderte langsam, doch das fiel in dieser Gegend nicht auf.
Wie sie immer öfter feststellte, kam sie inzwischen fast ganz ohne Nahrung aus, ohne das ihr etwas gefehlt hätte. Der Hunger, der sie früher noch manchmal gequält hatte, war ganz weg.
Eines abends kam die Katze an ihr Bett. Das hatte sie noch nie getan. Nie war sie zuvor die Treppe hinaufgestiegen.
Als sie die Katze auf ihrem Kopfkissen bemerkte, öffnete sie mühsam die Augen. Schwerfällig wendete sie ihren Kopf und sah die Katze an.
Die Augen der Katze waren übergroß. Sie strahlten. Nur sie verstand ihre Sprache. In den Augen der Katze las sie Trauer. Ihr Körper wurde immer schwerer. Ihre Arme und Hände waren so schwer, dass sie sie nicht mehr hochheben konnte, um die Katze zu streicheln.
Trotzdem war sie glücklich. Das Leuchten der Katzenaugen umfing sie. Plötzlich fühlte sie sich ganz leicht. Ihr war, als würde sie anfangen zu schweben.
Sie sah jetzt nur mehr die Augen der Katze. Nichts sonst. Und die Liebe in den Augen. Die Liebe für sie. Ganz allein für sie.
Sie hatte sich diese Liebe erarbeitet, und nichts konnte sie ihr mehr nehmen.